Die Deutsche versteckt im Körper einer Türkin

Zu Gast bei Jilet Ayşe

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Wir treffen Idil Baydar in Berlin-Kreuzberg zum zweiten Frühstück. Idil ist durch ihre Rolle Jilet Ayşe ein Youtube-Star geworden und hat nun ein Bühnenprogramm in der Bar jeder Vernunft. Im Interview sprechen wir über ihre verschiedenen Rollen, Farmville und Waldorfschulen.

Du beschreibst deine Rollen als Sozialsatire – was heißt das für dich?
Das ist eine Prollfigur, die alles sagen darf. Ein wenig wie ein Hofnarr eigentlich. Es hätte auch Kultursatire heißen können, aber das wäre völlig verfehlt. Übrigens für alle da draußen, die meine Rolle nicht schnallen – es ist Ironie!

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Du spielst zwei Rollen. Gerda Grischke und Jilet Ayşe. Wann und wie bist du auf sie gestoßen?
Weihnachten 2011 war das. Sie sind zeitgleich entstanden. Gerda hatte ich für ein kleineres Theaterstück entwickelt und Jilet habe ich einfach auf der Straße gefunden. Ich hab damals in ein paar Schulen gearbeitet und konnte dabei sehr viel beobachten.

Gerda steht momentan noch im Schatten von Jilet.
Ja schon, aber ich denke, das muss auch so sein. Beide erzählen eigentlich dieselbe Geschichte. Jilet kann ich vielleicht einfach authentischer rüberbringen. Was viele nicht wissen: die Leben der beiden Figuren überschneiden sich. Jilet erzählt, außer dem ganzen anderen Kram, den sie sonst von sich gibt, auch von ihrer Schwester, die einen Freund hat – den Sohn von Gerda Grischke.

Beschreib uns mal Gerda und Jilet.
Die Deutsche Gerda fügt dir Schmerz zu während sie erzählt. Der ganze Subtext, den man von alten Omis hört: Muss man jetzt Angst vor Ausländern haben? Soll man doch lieber nur die Inder holen? Den spricht Gerda ganz direkt aus. „Die meint dat do’ ga’ nich so böse. Im Ausland da hab ick ja auch nüschts gegen Ausländer ja. Im Inland da jeht dat nüscht. Mäusken, dat sacht ja wohl schon das Wort Inland, ja!“

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Jilet ist eher wütend und das assoziiert man mehr mit dem Lustigsein. Es ist ein wenig wie der kleine, immer wütende Franzose Louis de Funès. Die Wut erzählt etwas, was dann so lustig ist, dass man den Schmerz in ihr fast vergisst.

Die beiden sind im gleichen soziokulturellen Milieu anzutreffen. Beide sind arm, beide sind Verliererinnen des Systems. Gerda hat in der Theorie alles richtig gemacht: Sie hat ihr Leben lang geackert aber kriegt jetzt so wenig Rente, dass sie eigentlich hinter Schloß Bellevue auf den Strich müsste. Und da ein Schuldiger her muss, ist es dann einfach der Ausländer.

Und du setzt dich dann auf die Straße und guckst den Gerdas und Jilets zu?
Mehr oder weniger passiert das tatsächlich so. Ich warte zufällig an der Bushaltestelle und bleibe dann sitzen und höre zu. Letztens saß eine alte Omi neben mir und die hat mir dann erzählt: „Der David Gerrit zieht so schlimme Hosen an, der gehöre dafür ins Arbeitslager.“ Wenn ich frage, ob die auch schon mal da waren, kommt einfach „Neee!“.

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„Idil ist in Wahrheit eine Biodeutsche,
versteckt im Körper einer Türkin!“

Du sprichst die dann auch direkt an?
Ja klar! Ich signalisiere ihnen auch immer, dass ich Verständnis für sie habe, sonst sprechen die ja auch nicht weiter.

Nerven Jilet und Gerda dich manchmal?
Die haben mich komplett besetzt und weil Idil so ein Weichei ist, stört es sie nicht wirklich. Idil ist in Wahrheit eine Biodeutsche, versteckt im Körper einer Türkin!

Du trennst also nicht und sagst: „Es ist jetzt 18 Uhr, Jilet hat jetzt Feierabend!“?
Ne! Das ist vierundzwanzig Stunden Wahnsinn. Irgendwann geht mir das so auf die Nerven, dass ich exzessiv Farmville spiele und den Leuten sage, ich sei mega busy.

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Eine klassische Schauspielausbildung hast du nicht hinter dir.
Brauch ich auch nicht! Ich bin früher auf einer Waldorfschule gewesen und Waldis haben eine künstlerische Grundbildung, die können so Sachen einfach.

Oh! Da herrschen ja auch wunderschöne Klischees, wie beispielsweise, dass du deinen Namen tanzen kannst – findest du das schlimm?
Nein, die Waldorfschule ist für mich die esoterische imperialistische Spitze und man lacht immer von oben nach unten. Ich bin schon ziemlich esoterisch drauf, aber auch offen für alle anderen möglichen Erklärungen. Ich kann Waldorfschulen echt nur empfehlen. Es war nicht so elitär und trotzdem sehr international dort und es hat gar keine Rolle gespielt, was für eine Nationalität man hatte.

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Warum polarisierst du so gerne?
Ich hab früher auch diese ganze Political Correctness Scheiße gequatscht, da hört dir doch keiner mehr zu. Probleme fangen oft im Kopf an und ich versuche mit meinen Rollen genau dort irgendwie reinzukommen. Es ist schon so, dass man immer das sieht, was man denkt. In der Schule redet man oft vom defizitären Blick. Schüler mit Migrationshintergrund schneiden im deutschen Bildungssystem schlechter ab, als ihre Mitschüler ohne Migrationshintergrund. Empfehlungsschreiben für die 5. Klasse werden in Deutschland nach sozialer Herkunft vergeben.

Darüber kann man sich doch aber hinwegsetzen, wenn einem das Geschriebene nicht passt.
Was ist mit denen, die es nicht können. Genau die werden später nämlich unangenehm. Es ist besser sich jetzt um sie zu kümmern, als sie dann mit einem Messer am Hals zu haben. Wir leben einfach nicht in einer Leistungsgesellschaft, in der jeder das kriegt, was er leistet, sondern in einer Herkunftsgesellschaft.

Aber inwiefern fördert die Rolle von Jilet diese Leute? Schürrt man nicht noch mehr vorgefertigte Bilder im Kopf, in diesem Fall bei Lehrern?
Wenn du ein Lehrer bist und behauptest, dass alle deine Schüler so wären wie Jilet und selbst gar nicht reflektierst, was dort auf der Bühne demontiert wird, dann ist das verantwortungslos. Es ist seine Aufgabe zu hinterfragen, warum Jilet so ist, wie sie ist.

Das bedeutet, dein Wunsch ist, dass die Leute anfangen Dinge zu hinterfragen wenn du auf der Bühne stehst?
Man soll sich Gedanken darüber machen, ob das wirklich die Wahrheit ist.

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Credits
Text: Melisa Karakuş
Fotos: Michael-Kuchinke-Hofer

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