Grenzenlos

Ein Interview mit Kardeş Türküler

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Das Foyer des Telekom Forums in Bonn platzt nahezu aus allen Nähten. Viele Menschen haben sich in diesem Raum versammelt. Diversity ist ziemlich angesagt an diesem Abend. Grund hierfür ist das zweite Konzert des Beethoven Orchesters mit dem Ensemble Kardeş Türküler. Rhythmische Trommellaute ertönen. Passend dazu steigt die Erbane ein. Vor dem geistigen Auge zeichnet man einen weiten Horizont. Er lädt ein, sich fallen zu lassen.

Plötzlich wird man reingeschleudert in den Türkischen Marsch von Beethoven. Der Abend verspricht in seinen ersten Minuten viel und bietet in den nächsten zwei Stunden eine beflügelnde Reise zwischen zwei Welten. Renk hatte im Vorfeld zu diesem Konzert die Gelegenheit, die besonderen Musiker*innen von Kardeş Türküler zu treffen. Entstanden ist ein Gespräch mit Fehmiye Çelik und Vedat Yıldırım über Transnationalität, deutsch-türkische Beziehungen und Käse.

Ihr arbeitet zum zweiten Mal mit dem Beethoven Orchester und dem Dirigenten Dirk Kaftan zusammen. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit? Wer hat die ersten Schritte in die Wege geleitet?

Im Grunde genommen arbeiten wir jetzt schon zum dritten Mal zusammen. Alles begann 2011 in Augsburg. Kaftan hatte damals in dem Philharmonischen Orchester Augsburg dirigiert. Anlässlich der 50 Jahre türkischen Einwanderungsgeschichte gab es eine große Veranstaltung mit verschiedenen Vereinen. Diese wollten letztendlich ein Konzert mit Kardeş Türküler geben. So kam es schließlich zu der Kontaktaufnahme. Nachdem Kaftan seine Stelle im Beethoven Orchester antrat, hielt er weiterhin den Kontakt.

Wie ist denn die Arbeit mit dem Dirigenten Dirk Kaftan?

Ein klassisches Orchester ist eine eigene Disziplin. Eine andere Welt. Diese beiden Welten miteinander zu verbinden kann sehr schön sein und doch ist es mit Schwierigkeiten verbunden. Wir müssen noch viel voneinander lernen. Kaftan hat uns bei unserer ersten Zusammenarbeit in Augsburg Folgendes gesagt: Der Westen wurde auf den Orient übertragen. Schritt für Schritt wird sich das weiterentwickeln. Genau das ist bei den nächsten Treffen tatsächlich passiert.

 

Und wie ist die Arbeit mit dem Beethoven Orchester?

Die Arbeit bedingt hohe gegenseitige Aufmerksamkeit. Die vorwiegend orientalischen und balkanischen 7/8- und 9/8-Takte sind im westlichen Raum unüblich. Diese kommen jedoch in unseren Liedern häufig vor. Das Beethoven Orchester beweist sehr viel Mut, in dem es ungewohnte Takte und Rhythmen in ihr Repertoire aufnimmt. Sie sind gewillt, Neues zu lernen.

Diese musikalische Arbeit könnte man mit Migrationsprozessen vergleichen. Die erste Generation hat es immer am schwierigsten. Aber die Nachkommen lernen die Sprache und identifizieren sich damit. Man versucht, eine geschmackliche Verbindung zwischen Beyaz Peynir (dt. Schafskäse) und Kaşar (dt. Hartkäse) herzustellen.

Die Veranstaltung des Beethoven Orchesters nennt sich „Grenzenlos 1“. Wie kann der Begriff der Grenzenlosigkeit auf Kardeş Türküler angewandt werden?

Kardeş Türküler ist grenzenlos. Kulturelle Grenzen haben kein Ende und keinen Anfang. Wir selbst tragen zum Beispiel Bikulturalitäten in uns. Unsere Grenzen sind keine nationalen Grenzen. Wir beschreiben sie eher als gelebte Geografie. In unserer musikalischen Arbeit beweisen wir ebenso Grenzenlosigkeit. Wir haben mit vielen Musikerinnen und Musikern aus verschiedensten Richtungen zusammengearbeitet. Wir setzen uns stets neue Ziele und neue Träume. Die Teilnahme an Veränderungen und Umwandlungen in der Musik und im Weltgeschehen sind uns sehr wichtig.

Unsere Grenzen sind keine nationalen Grenzen. Wir beschreiben sie eher als gelebte Geografie.

Eure Grenzenlosigkeit zeigt sich in eurer Sprachwahl. Ihr singt auf Türkisch, Kurdisch, Armenisch, Aserbaidschanisch und die Liste ist lang. Habt ihr mal überlegt, auf Deutsch zu singen?

Bisher haben wir nicht konkret darüber nachgedacht. Jedoch haben wir zu Zeiten an der Istanbuler Bosporus Universität deutsche Arbeiter-, Revolutions- und Anti-Kriegs-Lieder sehr gerne gehört. Zum Teil waren es Lieder von Bertolt Brecht. Wir mögen deutsche Musik. Rammstein, Nena und Falko sind sehr bekannte Musikerinnen und Musiker. Der Song „Ein bisschen Frieden“ von Nicole gefällt uns zum Beispiel sehr. Vielleicht sollten wir tatsächlich deutsche Lieder in unser Repertoire mit aufnehmen. Dieser Idee steht eigentlich nichts im Weg.

Cem Karaca hat 1984 ein deutsches Album veröffentlicht. Der Hauptfokus dieses Albums liegt auf den türkischen Gastarbeiter*innen. Aufgrund dieses deutschen Geschichtsereignisses haben wir heute eine große türkische Community in Deutschland. Was sagt Kardeş Türküler zu dem Thema der Gastarbeiter*innen-Gesellschaft?

In Augsburg hatten wir Kontakt zu Menschen mit Gastarbeitergeschichten. Was uns auffiel, war, dass diese Geschichten alle denselben Grundgedanken hatten. Vorerst war das Ziel, wieder zurückzukehren. Doch haben sie mit der Zeit ihre Wurzeln geschlagen und sind geblieben. Demnach sind sie keine Gäste mehr. In Augsburg haben wir immerhin 50 Jahre Einwanderungsgeschichte zelebriert. „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“ war ein Apell dieser Zeit. Eventuell erreicht diese Geschichte sein hundertfünfzigstes oder zweihundertfünfzigstes Jahr.

„Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“

Wir dürfen nicht vergessen, dass sich diese Geschichte auf andere Art und Weise wiederholt. Es gibt derzeit geflüchtete Menschen aus Syrien. Wir sollten stets wachsam von der Geschichte lernen. Versuchen, die unterschiedlichen Lebenslagen der menschlichen Vielfalt zu verstehen. Ein Migrationsprozess ist leider immer noch ein schwieriger Prozess.

 

Was ist eurer Ansicht nach typisch türkisch?

Es ist zum Beispiel typisch, dass bevor man überhaupt das Essen vor sich probiert hat, zuerst kräftig nachgesalzen wird. Typisch ist es auch, dass man nicht die kommenden 50 Jahre organisiert, sondern versucht die nächsten zehn Tage zu bestreiten.

Menschen aus Deutschland sind zum Beispiel überpünktlich. Aber bei Menschen aus der Türkei ist dies unmöglich. Vor allem in unserer Smartphone-Gesellschaft ist der Ausspruch bei Menschen aus der Türkei „Ich rufe dich dann mal an“ beliebt. Dann schreibt man sich zum verabredeten Treffzeitpunkt, dass man später kommt.

Und was ist eurer Ansicht nach typisch deutsch?

Deutschland ist ein Bildungsland. Die Philosophie ist hier sehr stark verankert. Viele innovative Gedanken kommen aus diesem Land.

Eine lustige Sache ist uns in unseren Deutschlandbesuchen aufgefallen. Menschen aus Deutschland bleiben immer an einer roten Ampel stehen. Egal zu welcher Uhrzeit. Auch an einem stillen, verkehrsleeren Sonntagmorgen. Das hat sich aber auch geändert. Mittlerweile sieht man mehr Rotgänger.

Wir sollten nachträglich hinzufügen, dass wir in diesem Sinne von Menschen aus geografischen Räumen sprechen. Also nicht von den Türken oder den Deutschen. Aufgrund dessen sprechen wir von Menschen aus der Türkei und Menschen aus Deutschland. Stereotypen und Klischees können stets die Vielfalt innerhalb einer Gesellschaft ignorieren. Sie machen dieses Problem sogar unsichtbar. Kardeş Türküler steht für vielschichtige Diversität, die wir selbst auch verkörpern.

Wir sprechen nicht von Türken und Deutschen, sondern von Menschen aus der Türkei und Menschen aus Deutschland.

Der Begriff „Almancı“ (dt. Deutschländer*in) wird überwiegend für Gastarbeiter*innen und deren Nachkommen verwendet. Was sagt Kardeş Türküler zu diesem Begriff?

Es ist ein negativ konnotierter und somit herabsetzender Begriff. Er beschreibt gar nicht das Leid und die Tortur dieser Menschen. Er hebt nur die vermeintlich positiven Eigenschaften hervor. Somit erniedrigt dieser Begriff die Betroffenen. Es ist kein Begriff, den wir tolerieren.

Euer letztes Album „Yol“ (dt. Weg) ist zwei Jahre alt. Wann erscheint das nächste Album?   

Die Arbeiten haben schon begonnen, aber man kann nie sagen, wann das Werk fertig sein wird.  Was gesagt werden kann, ist, dass viele eigene Songs dabei sein werden.

 

Text: Murat Taşcı
Fotos: Nathan Dreessen

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