Als die ersten Wasserwerfer durch die İstiklal stürmten, standen fast alle unter Schock. Die Teilnehmer der Istanbul Pride 2015 ergriffen die Flucht und eine zwölfjährige Tradition der friedlichen Versammlung nahm somit ein Ende.
Auf der diesjährigen Pride musste ich ein nasses Halstuch um den Hals binden, um mich vor dem Tränengas zu schützen und hatte die Nummer der amerikanischen Botschaft auf Kurzwahl. Ich wusste nicht, wie ich mit dieser neuen Situation umgehen sollte, aber für die Queer-Community dieses Landes, war diese „Neue Türkei“ schon Realität. Als meine Kollegin Gözde und ich die Istiklal betraten waren wir deshalb sehr nervös: Wir waren gekommen, um einen Film zum Thema LGBT-Leben und Aktivismus unter der AKP zu drehen. Nur Sekunden später riss ein Polizist in Zivil einen Mann aus den Tränengaswolken und nahm ihn laufender Kamera gewaltsam fest. Unsere Bilder – plötzlich wichtige Beweise einer furchtbaren Wende in der Geschichte – fühlten sich nicht an, wie in der Türkei aufgenommen.
Wenn das Stichwort von Pride 2015 „Panik“ war, ist es dieses Jahr „Pragmatik“.
Die Wende
Im vergangenen Sommer verbot die AKP-geführte Regierung die jährlich stattfindende Pride Parade kurz vor Auftakt der Veranstaltungen. Der Grund: Es war Ramadan. Der Marsch wäre ein Affront gegenüber dem heiligen Monat gewesen. Eine halbe Stunde vor der Anfangsrede stürmte die Polizei die İstiklal, suchte nach AktivistInnen, nahm Menschen fest, und schoss sogar Gummigeschosse in die Menge.
Innerhalb von Minuten dominierten schockierende Schlagzeilen die internationalen Presse und fast überall auf der Welt fingen die Abendnachrichten mit den Ereignissen in Istanbul an. Die Reaktion der Regierung wurde von der internationalen Presse als „abrupt“, „willkürlich“ und „unberechtigt“ beschrieben. Die Pride 2016 entfaltete sich ähnlich. Diesmal ohne die Überraschung und mit ein paar tausend mehr Polizisten, die die Demonstrationen viel gezielter verhindern wollten.
Ein starker Gegenwind
Wenn das Stichwort von Pride 2015 „Panik“ war, ist es dieses Jahr „Pragmatik“. Die LeiterInnen der LGBT-Community haben die vergangenen zwölf Monate sinnvoll genutzt: flicken, bauen, planen für 2016. Es war eine leise Arbeit. Der Versuch, eine Bewegung, die von den plötzlichen Angriffen der Polizei demoralisiert worden war, in Bewegung zu halten. Viel Öffentlichkeitsarbeit und die Mobilisierung von PolitikerInnen sollte eine Unterstützung der Öffentlichkeit bewirken, Grundrechte und Schutz gewährleisten. In der Türkei jedoch wehte nun ein anderer Wind: Die Regierung, Nationalisten und Radikale waren sich mit der türkischen Regierung einig: Es sollte dieses Jahr keine Pride-Parade geben. Der Druck auf die Organisatoren kam nun aus allen Richtungen.
Ein paar Tage vor den diesjährigen Demonstrationen besuchte ich daher eine Aktivistengruppe, die wir seit einem Jahr begleiteten. Als ich in ihrem Büro ankam, saß eine Gruppe von FreiwilligInnen um einen kleinen Tisch und bereiteten die Parade vor. Sie machten Witze und tauschten gleichzeitig wichtige Fakten über die Organisation aus. Obwohl die generelle Situation sehr angespannt war, konnten sie in ihrem Büro dennoch gelassen miteinander arbeiten. Aber ein Thema konnten sie nicht ignorieren:
In den vergangenen Wochen waren vermehrt Todesdrohungen im Büro eingegangen. Nun mussten sie sich um ein permanentes Sicherheitspersonal für das LGBTI-Büro kümmern.
Die Herausforderungen und der Widerstand, dem die LGBT- Community in der Türkei ausgesetzt ist, wird jedoch auch in harmloseren Situationen sichtbar. Ein gutes Beispiel war das Einholen der Genehmigung für den Pride-Walk 2016: Laut der türkischen Verfassung muss man eigentlich keine Genehmigung einholen, um seine Meinungsfreiheit auszuüben. Die Organisatoren der Pride Demonstrationen reichen jedoch trotzdem jedes Jahr eine Dokument bei der Stadt ein, um die Veranstaltung zu registrieren. Bis 2015 bekamen sie auch die Genehmigung für den Walk. Aber dieses Jahr kam der Antrag erst gar nicht durch.
Etliche Anwälte mussten mehrmals mit den Behörden reden, nur um eine Bestätigung für den Antrag zu bekommen. Bei einem der letzten Besuche auf dem Amt, wurde den Organisatoren mittgeteilt, dass die Parade an dem gewünschten Datum im Juni stattfinden könne, aber durch das konservative Viertel Fatih führen müsse – selbstverständlich ohne Polizeischutz. Der Beamte soll mit einem selbstzufriedenen Grinsen gesprochen haben – wie in einem Gangster-Film, wenn der Schurke etwas vorschlägt, dass einen Schlimmes erahnen lässt.
Die„neue Türkei“ und die LGBTI-Bewegung
In diesen teuflischen Details entpuppt sich, wie diese „neue Türkei“ funktioniert. Eine Türkei, mit einer schmutzigen Ideologie. Eine Türkei, in der Institutionen und Regierung, die sich als „Mehrheit“ begreifen, Personen und Gruppen gezielt angreifen, die nicht zu dieser Mehrheit gehören. Meinungen und Glauben der Mehrheit übertrumpfen die Rechtsstaatlichkeit. Noch beunruhigender ist das Versagen von bürokratischen und demokratischen Prozessen: Sie enthüllen den Zusammenbruch der pluralistischen Türkei, wie wir sie zu kennen glaubten. Die LGBT-Community ist eine der kleinsten und ungeschütztesten Gruppen in der Gesellschaft, und wie mit dem Pride-Walk umgegangen wird, ist eine Fallstudie, die aufzeigt, wie in Zukunft mit unerwünschten Minderheiten umgegangen wird.
Für die LGBTI-Community ist diese „neue Türkei“ aber gar nicht so neu – denn seit Jahrzehnten kämpfte sie gegen einen Staat, der ihnen fast keinerlei Rechte einräumte. In dieser neuen Türkei aber ist die Demokratie immer mehr in Gefahr und somit auch die Existenz der Queer-Community.
Alternativer Protest auf dem Weg zum Vorbild
Auch in diesen harten Zeiten standen daher viele aus der Queer-Community trotz Verbot und ungeachtet der großen Polizeipräsenz auf den Straßen von Istanbul. Da der große Marsch auf der Istiklal verboten wurde, fanden daher viele einen alternativen Weg, um zu protestieren. Man drangsalierte die Polizei und spielte ihnen kleine Ablenkungsspielchen, während einige sich zusammentaten, um Regenbogen-Farbe auf die Straßen von Istanbul zu kippen. Das waren also kleine Aktionen, um die Aufmerksamkeit auf die Besonderheit dieses Tages zu lenken.
In den letzten Stunden dieses besonderen Tages passierte dann doch etwas Magisches: Plötzlich versammelten sich hunderte Menschen für eine Kundgebung in einer Seitenstraße der Istiklal.
In Begleitung von Musik, welches aus einem nahegelegenen LGBTI-Büro dröhnte, begann auch schon ein Freudentanz inmitten der Regenbogenfahnen. Auch als plötzlich die ersten Gasbomben in die Menge fielen, hörte niemand auf zu tanzen – man wollte sich selbst feiern und sich um keinen Preis ergeben. Erst als es gefährlicher wurde, löste man sich auf. Rannte weg. Zurück blieb ein Gefühl und man glaubte für einen kurzen Moment, einen Schritt nach vorne gemacht zu haben.
Vielleicht müssen andere Minderheiten und Oppositionsgruppen den Mut aufbringen mitzutanzen und sich dieser neuen Form des Widerstandes anschließen… Die Queer-Community in Istanbul kann in dieser neuen Türkei als Vorbild für andere Minderheiten und Oppositionsgruppen agieren, da sie immer noch mutig ihre Rechte einfordert – während andere Bewegungen eingeschüchtert von der Gewalt des Staates einen Rückzieher machen.
Credits
Text: Gözde Böcü & Shane T. McMillan
Fotos: Gözde Böcü & Shane T. McMillan