Im Sommer 2019 bei der Kommunalwahl gelang der Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) der große Schlag gegen die Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung). Die CHP setzte sich nicht nur in der Megastadt Istanbul durch, sondern auch in der Hauptstadt Ankara und in den Millionenstädten Izmir und Adana. Wir haben mit Dr. Felix Schmidt über die Arbeit der Opposition, die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei und die Arbeit der Stiftung im Bereich Frauenrecht in Zeiten von Corona gesprochen.
Merhaba Herr Dr. Schmidt! Können Sie uns kurz erklären, wie Sie persönlich dazu gekommen sind, für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul zu arbeiten? Und warum die Türkei?
Merhaba! Ich habe fast mein ganzes Berufsleben bei der Friedrich-Ebert-Stiftung verbracht und war in unterschiedlichen Ländern in Asien und Afrika für die Stiftung tätig. Die Türkei und die Stadt Istanbul insbesondere haben mich schon länger fasziniert. Als ich hörte, dass die Stelle in Istanbul frei wird, habe ich mich gleich darauf beworben. Die Türkei und Deutschland sind sehr eng verwoben, beide Nationen haben schon seit langer Zeit einen intensiven Austausch und sind historisch durch viele gemeinsame Höhen und Tiefen gegangen. 3-4 Millionen türkischstämmige Bürger in Deutschland sind zu einem Teil der deutschen Bevölkerung geworden und haben diese trotz mancher Spannungen bereichert.
Inwiefern unterscheidet sich die Türkei hinsichtlich der Arbeitsweise, des Arbeitsalltags und des Arbeitsumfeldes im Gegensatz zu Deutschland?
Eigentlich unterscheiden sich die beiden Länder meiner Meinung nach gar nicht so sehr. Deutsche wie auch Türken haben den Ruf, sehr fleißig zu sein (und sind es auch!), ich finde sie sind beide vergleichsweise diszipliniert und pflichtbewusst. Vielleicht kann man sagen, dass man in der Türkei flexibler auf Herausforderungen reagiert, während man in Deutschland doch sehr auf vorhandene Strukturen und Traditionen setzt. Das mag daran liegen, dass es in der türkischen Geschichte bis in die jüngste Vergangenheit große Schocks und Umbrüche gegeben hat. Ein Beispiel ist der Putschversuch von 2016, der plötzlich neue Rahmenbedingungen schuf. Auch die Lage der Türkei in einer extrem komplizierten Region verlangt viel Flexibilität.
Wie viel Sozialdemokratie steckt in der Türkei?
Die Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) bezeichnet sich selbst als Sozialdemokratische Partei. Wie die SPD in Deutschland verfügt sie über eine lange Tradition in der Parteiengeschichte des Landes. Auch sie hat sich im Laufe der Jahre gewandelt und an neue Realitäten angepasst. Insofern steckt eine ganze Menge Sozialdemokratie in der Türkei. Allerdings entspricht die Sozialdemokratie aufgrund der unterschiedlichen historischen Traditionen der beiden Länder nicht deckungsgleich der deutschen Sozialdemokratie.
Grob vereinfacht kann man sagen, dass die Sozialdemokratie stärker nationalistisch ausgerichtet ist, während die deutsche Sozialdemokratie sich historisch einer internationalen Orientierung verpflichtet gefühlt hat.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung gibt an, sich für „die Umsetzung der Rechte von Frauen“ in der Türkei einzusetzen. Können Sie diese Arbeit konkretisieren?
Frauenförderung und Gleichstellungspolitik spielt nicht nur in der Türkei, sondern weltweit eine wichtige Rolle bei der Projektarbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung. Und so versuchen wir auch in der Türkei mit unterschiedlichen Partnern die Rechte der Frauen zu stärken. Gerade in der jetzigen schwierigen Zeit der Coronakrise wird die zunehmende häusliche Gewalt gegen Frauen ein immer wichtigeres Thema, das wir mit unseren Partnern aktiv angehen, indem wir das öffentliche Bewusstsein für die skandalösen Zustände fördern. Außerdem unterstützen wir konkrete Hilfsmaßnahmen, wie z.B. Frauenhäuser für bedrohte Frauen und Mädchen.
Erdoğan hatte mit der Aussage „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“ die Bürgermeisterwahlen 1994 gewonnen. Seit Sommer 2019 ist die Oppositionspartei Cumhuriyet Halk Partisi (dt. „Republikanische Volkspartei“) in der Persona von Ekrem İmamoğlu in Istanbul an der Macht. Wie beurteilen Sie die aktuelle Arbeit der Opposition? Könnte sich die Aussage wieder bewahrheiten?
Der Wahlsieg der Opposition hat in Istanbul wie im ganzen Land tatsächlich einen Stimmungsumschwung herbeigeführt. Viele politische Beobachter glaubten nicht mehr wirklich an einen demokratischen Wechsel über Wahlen im Land, auch wenn dieser zunächst auf kommunaler Ebene stattfand. Die Opposition hatte ja nicht nur in Istanbul, sondern in sämtlichen großen Städten des Landes einen Wahlsieg eingefahren. Zwar wiederholt sich die Geschichte nie exakt in der gleichen Weise, aber es ist durchaus vorstellbar, dass es auch auf nationaler Ebene zu einem Machtwechsel über die Wahlurnen kommen wird. Aber die nächsten Wahlen werden regulär erst 2023 stattfinden, bis dahin „fließt noch viel Wasser den Bosporus hinab“, um das deutsche Sprichwort ein wenig abzuwandeln.
Den Grund für die Niederlagen der Regierungsparteien bei den Kommunalwahlen 2019 sehen viele in der anhaltenden Wirtschaftskrise und der miteinhergehenden geringer werdenden Akzeptanz für die 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei. Könnte sich diese Unzufriedenheit mit der aktuellen Coronakrise verstärken?
Auf jeden Fall wird sich die Wirtschaftskrise durch Corona verstärken. Und in der Tat haben die wirtschaftlichen Probleme eine große Rolle bei der Wahlniederlage in den Kommunalwahlen gespielt. Allerdings ist es nicht ausgemacht, dass die Wähler diese Probleme der Regierung Erdoğan anlasten werden.
Es zeigt sich ja auch in anderen Ländern: Krisenzeiten sind Zeiten der Exekutive. Ist die Bevölkerung mit dem Krisenmanagement der Regierung zufrieden, kann Erdoğan sogar gestärkt aus diesen schwierigen Zeiten hervorgehen.
Den Beziehungsstatus zwischen Europa und der Türkei würde man seit nun 15 Jahren mit den Worten: „Es ist kompliziert“ beschreiben. Außerdem investiert die Türkei immer mehr in eine russisch-türkische Partnerschaft. Könnte sich das durch einen Regierungswechsel ändern?
Die Opposition hatte sich immer zu der Bindung des Landes zum Westen bekannt. Von daher kann man davon ausgehen, dass sich die Beziehungen nach Europa bei einem Machtwechsel wieder verbessern werden. Die Türkei ist auf diese guten Beziehungen auch angewiesen. Ohne die tiefen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen der Türkei und Europa würde die Wirtschaft noch schneller und viel tiefer in die Rezession abrutschen. Alle anderen Bündnisse – sei es mit Russland, China oder dem mittleren Osten – können diese wirtschaftlichen Vorteile nicht ersetzen.