Femizide in der Türkei

Der Ausdruck toxischer Männlichkeit

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In der Türkei gibt es keinen Grund für Frauen am Kurban Bayramı (Opferfest) aufatmen zu können. Laut der feministischen Plattform Kadın Cinayetlerini Durduracağız (KCD) („Wir werden Femizide beenden“) wurden in der Türkei an diesem Feiertag innerhalb von 24 Stunden Süheyla Yılmaz, Derya Aslan und Emine Yanıkoğlu von ihren Ehe- bzw. Exmännern ermordet.

Der Schmerz um den brutalen Mord der 27-jährigen Studentin Pınar Gültekin durch ihren Expartner am 16. Juli und die darauf folgenden drei weiteren Femizide sorgten für die Instagram schwarz-weisse Bilder-Aktion; zu finden unter dem Hashtag  #istanbulconventionsavesaveslives #istanbulsözleşmesiyaşatır #kadınaşiddetehayır #womensupportingwomen

 

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Das Wort Femizid bedeutet die gezielte Ermordung bzw. Tötung von Frauen oder Mädchen allein aufgrund ihres Geschlechts. Femizide sind als (Massen-)Phänomen natürlich kein rein türkisches Problem, sondern ein weltweites, doch das erschreckende Ausmaß in der Türkei zeugt von einem Staat, der unfähig oder unwillig ist, seine Bürgerinnen zu schützen.

Allein im Jahr 2019 wurden 474 Femizide in der Türkei verübt, statistisch bedeutet das, dass kein Tag ohne einen Mord an einer Frau verging.

Die Website Anıt Sayaç zählt für dieses Jahr bereits 177 Morde, davon wurden 36 Morde allein für Juli dokumentiert. Diese Zahlen schmerzen, doch noch mehr schmerzen sie, wenn die unzähligen Namen, Bilder und Geschichten der Frauen hinter den Zahlen auf der eigens eingerichteten Website Anıt Sayaç sichtbar werden.

Die Unfähigkeit des türkischen Staates, der Mehrzahl seiner Bevölkerung eine überlebenswichtige Sicherheit zu gewähren, rührt aus mehreren Gründen: Die politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte hin zu einer offen reaktionär-patriarchalen Familien- und Geschlechterauffassung verschlechtern die soziale Stellung der Frauen. Obwohl die Türkei als erstes Land 2012 die Istanbul-Konvention – ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – ratifizierte und damit die rechtlichen Verpflichtungen der Konvention für staatliche Organe wie Gesetzgeber*innen, Gerichte und Strafverfolgungsbehörden bindend sind, hat sich die Situation seitdem kaum gebessert. Schlimmer noch, trotz der schockierenden Femizidrate diskutiert die AKP aktuell wieder über einen Austritt aus dem Übereinkommen.

Angeblich würde die Istanbul-Konvention das traditionelle Familienverständnis unterhöhlen und dem allgemeinen Verhältnis zwischen Mann und Frau widersprechen. Sehr ähnliche Argumente finden sich zurzeit auch in Polen, wo ebenfalls diskutiert wird, aus der Übereinkunft auszutreten. Beide Länder eint die staatliche Rückbesinnung auf Religion und religiöse Werte. Hier wird die Diskrepanz zwischen staatlicher Gleichstellungspolitik und tatsächlichen vorherrschenden Geschlechterverhältnissen deutlich. Damit kommen wir zum zweiten Problem: Repräsentation.

In der Türkei sind in allen staatlichen Organen Männer überrepräsentiert. Bei der ebenfalls männlich dominierten Polizei und Justiz können die Täter oftmals auf Nachsicht hoffen. Daraus ergibt sich eine größere Toleranz für die grausamen Verbrechen. Bezeichnungen wie „Beziehungstat“, „Eifersuchtsdrama“ oder „Familiendrama“ sind Ausdruck der Verharmlosung. Die Medien übernehmen oft die relativierenden Begriffe und verklären damit die tatsächlichen Gewalt- und Machtverhältnisse.

Nach Angaben von feministischen Organisationen wie der KCD sind allein in den letzten zwei Jahren über 30.000 Fälle männlicher Gewalt zur Anzeige gebracht worden. Die Dunkelziffer ist ungemein hoch. Missbrauch, Gewalt und Femizide sind keine tragischen Einzelschicksale, sondern weisen auf ein strukturelles Problem. Bevor wir zum Hauptproblem kommen – und damit meine ich uns, liebe Männer! – sollten wir auch noch einen Blick auf Deutschland werfen.

sexistisch, frauenfeindlich und gewaltvoll

Es ist die typische Reaktion, sobald es eine Möglichkeit zur kollektiven Verdrängung gibt: sexistisch, frauenfeindlich und gewaltvoll sind immer die Anderen. Bei dem Thema Femizid funktioniert das ebenso gut, wenn nicht noch besser, da muslimisch gelesene Männer sowieso als bedrohlich konstruiert werden. Die Projektion von Gewalt und Frauenfeindlichkeit auf eine muslimisch-männliche Minderheit in Deutschland hat eine lange Tradition. Doch die Zahlen weisen auf ein gesamtgesellschaftliches Problem hin. In Deutschland wird statistisch gesehen jeden dritten Tag eine Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet. Letztes Jahr wurden 111 Femizide und 192 Femizidversuche durch Behörden erfasst.

Das Problem Gewalt gegen Frauen existiert auch in Deutschland und ist eigentlich seit langem bekannt. Die Daten des Europäischen Netzwerks für Datenjournalismus aus dem Jahr 2015 bestätigen, dass Großbritannien, Italien und Deutschland gemessen an absoluten Zahlen zu den Ländern in der EU gehören, in denen die meisten Femizide registriert werden. Daher fordern feministische Gruppen und die Linke seit längerer Zeit die Einführung eines eigenen Straftatbestandes. Die erst 2018 in Deutschland eingeführte Istanbul-Konvention entfaltet nicht den notwendigen effektiven Schutz vor geschlechtsbezogener Gewalt.

Die verpflichtenden Maßnahmen, wie geschlechtsbezogene Gewaltprävention als auch akute Schutzeinrichtungen sind systematisch unterfinanziert. 2019 fehlten in Deutschland zum Beispiel 14.600 Plätze in Frauenhäusern.

Das ist beschämend und unter Corona-Verhältnissen hat sich die Situation für betroffene Frauen sogar noch verschlechtert. Ob Türkei, Deutschland oder Mexiko – alle Länder haben eines gemeinsam: Das eigentliche Problem ist Männlichkeit.

Männer, wir müssen reden!

Männer, was los mit uns?! Frauen werden durch Männer getötet. Sie werden getötet, weil sie Frauen sind. Meistens sind es die eigenen Ehemänner, (Ex-)Partner, Väter oder Brüder – also alles Menschen aus familiären oder intimen Beziehungen, die morden. Wir wissen auch, dass geschlechtsbezogene Gewalt kein individuelles Phänomen ist, sondern massenhaft und strukturell geschieht. Femizide sind die extremen Manifestationen des Patriarchats. Das Patriarchat ist eine Organisationsform – egal ob von Familie, Verein oder Unternehmen –, in der Privilegien und Macht vor allem in Händen von (heterosexuellen) Männern liegt. Das heißt unsere Gesellschaft ist hierarchisch geordnet. Das ist auch der Grund, warum wir als Männer in der Regel nicht sexuell belästigt werden oder in Beziehungen keine Gewalt erleben.

Das Problem sind nämlich wir als heterosexuelle cis-Männer. Ob wir wollen oder nicht, wir profitieren in fast allen gesellschaftlichen Bereichen durch diese Geschlechterhierarchie. Zeitgleich ist das die Ursache, warum das andere Geschlecht durch uns bedroht wird. Die eigentliche Frage ist, was machen wir mit diesem Wissen?

Mir ist letztens aufgefallen, dass ich in meinem Elternhaus noch nie die Toilette oder das Bad geputzt habe. Stattdessen macht es bis heute meine Mutter. Hätte ich eine Schwester gehabt, hätte sie das sicher machen müssen. Das Beispiel klingt merkwürdig, zeigt aber genau deshalb anschaulich, wie unser Geschlechterverständnis bzw. unser Rollenverständnis unser Verhalten prägt. Bis Männer Femizide begehen, haben sie eine entsprechende Sozialisation erfahren, die sich zum Beispiel auch in den unbedeutenden alltäglichen Dingen, wie Nicht-Putzen-Müssen äußert.

Männlichkeit ist ein Problem, solange es nicht kritisch ist. Kritische Männlichkeit bedeutet, sich seiner eigenen Privilegien bewusst zu sein und vor allem aktiv auf den Abbau der eigenen sexistischen Vorstellungen und Verhaltensweise hinzuarbeiten. Hierfür braucht es Austausch, Reflektionsarbeit und eigenen Willen. Es ist Arbeit an uns selbst gefragt, aber auch der Mut, andere Männer für das Thema zu überzeugen.

Titelbild: Shutterstock.com / Von Doidam 10  

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