Fazıl Say – „Ich lebe für und mit Musik“

Fazil Say Wikimedia Commons
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Seine Finger gleiten und fliegen im Wechsel über die Tasten seines Pianos, sein Körper beugt sich gekrümmt darüber und wiegt sich zum Rhythmus der Melodie. Seine Augen sind fest geschlossen, als würde er alles Weltliche um sich herum ausblenden. Sowohl Raum und Zeit als auch Tag und Nacht scheinen für den Pianisten Fazıl Say in diesem Moment zu einer Symbiose aus Klang und Ekstase zu verschmelzen. Was er fühlt, fühlen auch wir, was er sieht, sehen auch wir, was er hört, das hören auch wir.

Der Komponist porträtiert von Marco Borggreve

Die Sinfonien und das Piano

Seine außergewöhnliche Musikalität zeigte Fazıl Say bereits in jungen Jahren, „Ich spiele und komponiere, seit ich 5 Jahre alt bin. Das ist meine Natur“. Schon mit 15 studierte er Klavier und Komposition am staatlichen Konservatorium in seiner Heimatstadt Ankara und komponierte zu dieser Zeit die bis heute hochgelobte Sinfonie Black Hymns. 1986, als Fazıl 16 Jahre alt war, schrieb der berühmte Komponist Aribert Reimann: „Der Junge spielt wie ein Teufel!“. Reimann nahm „das Wunderkind“ mit nach Deutschland und Say studierte daraufhin in Düsseldorf und Berlin Klavier. Mit der Teilnahme und dem Sieg bei den Young Concert Artists International Auditions New York begann für Fazıl Say sein internationaler Durchbruch als Pianist und Komponist.

„Mein erster Eindruck von Fazıl war, da spielt Mozart!“, staunte Benedict Stampa, Intendant Konzerthaus Dortmund.

Vor ausverkauften Sälen spielt Fazıl Say mit den begnadetsten Orchestern der Welt (New York Philharmonic, Israelic Philharmonic Orchestra u.a.). Zahlreiche Ehrentitel wie Artist in Residence, mit welchem er u.a. von Radio France betitelt wurde und internationale Musikauszeichnungen (Internationaler Beethovenpreis, ECHO Klassik uvm.), wurden und werden ihm zuteil. Say beherrscht es, seine Gefühle in Töne und diese Töne in Sinfonien zu verwandeln. Er hat hochkomplexe Stücke geschrieben wie Black Earth, Silk Road und 1001 Nights in the Harem, interpretierte Mozarts Turkish March und Für Elise, verschwor sich mit dem Rhythmus des Jazz und wurde weltberühmt.

„Musik ist nicht mein Beruf, sondern mein ganzes Leben.“

Say besitzt den musikalischen Sinn, der Komponierende und der Pianist zu sein, eine musikalische Vereinigung, die für sein Schaffen untrennbar ist. Seine eigenen Sinfonien, sein Spiel als Pianist und sein Gespür für Improvisation, machen Fazıl Say zu einem der bedeutendsten Musiker des 21. Jahrhunderts.

„Ich spiele wie ein Türke“

Ein Porträt aus dem Jahr 2006.

Seine türkischen Wurzeln und die orientalischen Klänge seiner Heimat nutzt der Pianist gekonnt für seine Kompositionen und verbindet diese mit klassischen europäischen Tönen. „Es wäre doch seltsam, wenn sie in meine eigene Musik nicht einfließen würden, schließlich bin ich ein türkischer Komponist.“ Eine Liebeserklärung an die Stadt seiner Sehnsucht wurde die Istanbul Sinfonie. Sieben Sätze, statt wie sonst vier, sind Sinnbild für die sieben Hügel Istanbuls. In völligem Einklang spielen in der Istanbul Sinfonie klassische europäische Stilmittel mit orientalischer Ney, Darbuka und Tuba. Beginnen und enden lässt Say seine nostalgische Sinfonie mit dem Klang des rauschenden Meeres.

„Mein Zuhause ist die ganze Welt.“

In den Gedichten des Freiheitsliebenden Nazım Hikmet findet Say die geschriebenen Worte, die er selbst durch Melodien spricht. Er verbindet mit Hikmet das Streben nach Freiheit und Gleichheit, nach Meinungs- und Pressefreiheit in seiner Heimat. Der Pianist widmete ihm das Oratorium für Nazım Hikmet, die einfühlsame Vertonung seiner Gedichte. Durch seine Kompositionen lässt Say den großen Dichter sprechen und verkünden. Ganz besonders nahmen sich die Türk*innen der herzzerreißenden Sinfonie Memleketim an und erklärten diese zur Hymne der Liberalen Freiheitskämpfer des Landes.

Narben aus der Vergangenheit, wie das fundamentalistische Massaker von Sivas 1993 (Sivas Katliamı), bei dem die Familie Say einen Familienfreund, den alevitischen Dichter Metin Altıok, verlor, quälen Fazıl Say. Er verarbeitete seine Emotionen um dieses Attentat, indem er dessen Gedichte in klassische Kompositionen wandelte und Altıoks Poesie, durch seine Orchester in den Konzerthallen der Türkei ertönen lässt. Mit seinem Requiem für Metin Altıok würdigt Say den Freund und ehrt den Dichter.

Gezi Park

Die gegenwärtige politische Situation der Türkei bewegt Say immer wieder dazu, seine Gedanken in wütenden und fordernden Tönen, laut und für alle hörbar, erklingen zu lassen. So tat er dies, als die friedliche Demonstration einer ganzen Generation, die als die Gezi Proteste traurige Berühmtheit erlangen sollten, gewaltsam von der türkischen Polizei zerschlagen wurde. Der Pianist zeigte sich tief betroffen und schrieb das herzzerreißende Stück Gezi. Es entstand eine Komposition, die den 31. Mai 2013, als die Ereignisse ihren Höhepunkt fanden, in ihrer originalen zeitlichen Abfolge wiedergeben sollte. Say unterteilt Gezi in drei Komponenten.

Gezi I „Evening“, stellt den Abend des 31. Mai dar, als die Istanbuler*innen den Park friedlich und gemeinschaftlich besetzen. Gezi II „Night“ spielt den frühen Morgen, als die Spannungen zwischen Staat und Bürger*innen allmählich deutlicher werden. Und schließlich folgt Gezi III „Police Raid“, als der Angriff der türkischen Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die wehrlosen Bürger*innen Istanbuls beginnt. Fazıl Say komponierte Gezi gegen das Vergessen und für die Freiheit.

„Hinter jeder Musik steckt eine Geschichte.“

Alles im Leben hat eine Melodie – jeder Augenblick, jedes Lebewesen, jeder Ort und jede Reise. Jede Melodie erzählt eine eigene Geschichte, eine Geschichte von Liebe und Leidenschaft, von Hoffnung und Mut, von Wut und Trauer. Und die Orchester dieser Welt lassen diese Geschichten für uns erklingen. Am Piano nimmt Fazıl Say uns mit auf seine Reisen. Er erklimmt mit uns die sieben Hügel Istanbuls, er spaziert mit uns durch Mozarts Wien. Er lässt uns die freiheitsliebenden Gedichte Nazım Hikmets fühlen, trauert mit uns um die Opfer von Sivas und protestiert mit uns mit glühendem Herzen im Gezi Park.

Text: Banu Pınar

Fotos: Marco Borggreve / Wikimedia Commons

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