Knapp eineinhalb Jahre ist es nun her, dass die 1986 in Karlsruhe geborene Redakteurin und Autorin Fatma Aydemir mit Ellbogen ihren Debütroman veröffentlichte. Viel ist seitdem diskutiert und geschrieben worden über Hazal Akgündüz, die Protagonistin von Ellbogen. Für die Autorin, so erzählte sie uns letztes Jahr im Interview, war beim Schreiben des Romans die literarische Aushandlung der unterschiedlichen Facetten von Gewalt von zentraler Bedeutung: In Ellbogen, so Aydemir, zeigen sich neben der physischen auch die „psychologische und strukturelle Gewalt, die sich in Sprache äußert oder im Umgang mit Gruppierungen wie Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund“.
Wut und Gewalt
Es ist nicht verwunderlich, dass es Hazals Wut und Gewalt sind, über die im öffentlichen Diskurs über Ellbogen am meisten diskutiert wird. Stereotypen Vorstellungen von Weiblichkeit entgegenlaufend teilt Hazal ihn nämlich aus, den titelgebenden Ellbogen. Verbal – aber auch körperlich. Und die Grenzen dabei sind fließend, wie bei dieser Begegnung Hazals, der Ich-Erzählerin des Romans, und ihrer Freundin Elma mit „zwei Mittetussis“ (62):
„‚Wofür sollen wir uns denn entschuldigen?’, fragt sie.
‚Für euer dummes Lachen, ihr Schlampen!’, schreie ich ihr ins Gesicht. Sie schließt die Augen. Ich habe sie aus Versehen angespuckt. Elma schaut mich zufrieden an.
‚Entschuldigung. Ich entschuldige mich für uns beide’, sagt da das Pummelchen Lilly mit zittriger Stimme und macht einen Schritt nach hinten.
‚Nein, ich will es von ihr hören’, sagt Elma und verdreht den Unterarm der Schlanken. Die stößt einen leisen Schmerzlaut aus und verzieht das Gesicht.
‚Ich schwöre, ich brech dir den Knochen und hänge ihn mir um den Hals.’ Elma rückt ganz nah vor ihr Gesicht. Ich muss grinsen bei dem Gedanken, wie sie mit einer Knochenkette durch den Wedding läuft.“ (64)
Angenehm ist das stellenweise nicht, was man in Ellbogen über Hazals Denken und Handeln liest. Ehrlich wirkt es dafür umso mehr. Ehrlich in dem Anliegen der Autorin, ein Bild vom Aufwachsen in einer mehrfach marginalisierten gesellschaftlichen Position zu entwickeln: als Mensch mit Migrationsgeschichte, als Teenager, die aus einer Arbeiterfamilie stammt, und als Frau.
Grenzenloses Begehren
Hazal steht zu Romanbeginn kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag. Wir begleiten sie somit auf ihrem Weg zu der symbolisch aufgeladenen Schwelle zum Erwachsenwerden, ganz in der Manier einer Coming-of-Age Geschichte. In den ersten Sätzen der Geschichte erzählt Hazal von einem prägenden Erlebnis aus ihrer Kindheit:
„Hätte Desiree mir nicht mit ihren langen, sauberen Fingern jeden Lippenstift und Nagellack einzeln vorgeführt, wäre ich niemals auf die Idee gekommen zu klauen. Es war Sommer, das weiß ich noch genau, denn Desiree trug hellblaue Hotpants und die auf ihren Beinen glänzenden Härchen standen aufrecht, weil die Klimaanlage den Supermarkt in einen großen Kühlschrank verwandelt hatte. Obwohl ich erst sieben war, wusste ich, dass ich so kurze Hosen niemals würde tragen dürfen. Und ich wusste auch, dass Mama mir niemals erlaubt hätte, einen Glitzerlippenstift zu kaufen. Desiree aber hatte einen Geldschein in der Hand und musste sich nur noch für eine Farbe entscheiden.“ (7)
Obwohl Hazals Begehren auf einen Lippenstift gerichtet scheint, lässt sich erahnen, was für eine Welt an Möglichkeiten sich für sie in diesem kleinen Utensil abzeichnet und sie zum Ladendiebstahl verleitet. Von Beginn des Romans an ist Hazals Begehren deutlich mit Grenzen und Grenzüberschreitungen, legalen und anderen, verknüpft.
Die Melancholie der Wartenden
Hazals Alltag in Berlin, das die erste Hälfte des Buches bestimmt, ist unmittelbar einnehmend. So lauscht man hinein in ihr Leben in der Wohnung mit ihren Eltern, Salih und Sultan, und dem jüngeren Bruder Onur, in der sie abends heimlich mit ihrem Freund Mehmet aus Istanbul, den sie nie getroffen hat, videochattet. In der Bäckerei ihres Onkels, in der sie als Aushilfe jobbt. Bei der Zigarette auf dem Balkon mit ihrer Tante Semra, die als einzige in der Familie studiert hat. Beim heimlichen Kiffen in der Wohnung eines Freundes und während unzähliger Gespräche unter Mädchen auf den Straßen Weddings mit ihren Freundinnen Elma, Gül und Ebru.
Neben Hazals Wut und Begehren lese ich von Momenten voll Leichtigkeit und Hoffen, vom Spiel mit der eigenen Identität und von Sehnsucht. Am stärksten wirken allerdings die ruhigen Momente auf mich, in denen ich einen Einblick in Hazals Ängste erhalte: „Ich habe Angst, dass ich für immer auf der Ersatzbank rumsitze und auf das richtige Leben warte und das richtige Leben einfach nicht passiert“ (65), geht es Hazal durch den Kopf. Und plötzlich erfüllt die Seiten die gleiche Melancholie, wie sie Hazals Namen innewohnt, der sich mit „trockenes Laub, das von Bäumen fällt“ (165) ins Deutsche übersetzen lässt.
„Das einzig Aufregende, das mir je passiert ist, muss ich für mich behalten“
Hazals Warten auf das Leben hat an ihrem achtzehnten Geburtstag ein jähes Ende. In jener Nacht nach ihrer lebensumwälzenden Tat liegt sie, obwohl inmitten ihrer Freundinnen, doch vollständig emotional isoliert in der Dunkelheit. In wirren Gedanken zeichnen sich die Konturen ihrer sich ankündigenden neuen Existenz ab: „Mein Name ist Hazal Akgündüz, mein Thema lautet: Überleben“ (126), geht es ihr lakonisch durch den Kopf. Was folgt, ist Hazals Flucht in die Türkei.
Doch das aus der Ferne sehnsuchtsvoll verklärte Memleket, das sogenannte ‚Heimatland’ der in der Diaspora lebenden Gurbetçi, also der Arbeitsmigranten*innen der ersten Generation, erweist sich nicht als Zufluchtsort für Hazal. Im Istanbuler Alltag gehen mit der ersehnten Freiheit von den Zwängen ihres Berliner Lebens neue Unsicherheits-, Abhängigkeits- und Gewalterfahrungen einher. Inklusive neuer marginalisierender Fremdzuschreibungen von Identität: „Diese armen kulturlosen Deutschtürken haben eben alle ein Identitätsproblem“ (168), platzt es da an einer Stelle aus Halil, Mehmets in der Türkei geborenem Mitbewohner, heraus. Spannend. Gerne hätte ich mehr darüber gelesen, wie auch über ihr sexuelles Erwachen, das seitens ihres Partners brutal ignoriert wird. Doch die Ereignisse überschlagen sich zunehmend. Eine Anti-Heldin in einer Lebenskrise wandelt auf den Straßen einer Stadt im Ausnahmezustand umher. So nah, so authentisch, so greifbar Hazal für mich zu Romanbeginn ist, so sehr fängt sie mir in der zweiten Hälfte an zu entgleiten.
Ein offenes Ende mit vielen Fragen
Am offenen Ende des Romans verschwindet Hazal schließlich aus meinem Leben so unvermittelt, wie sie zu Beginn der Erzählung darin in Erscheinung trat. Was bleibt nach Hazals Verschwinden, sind Fragen. Aydemirs Roman wirft viele Fragen auf, ohne sie zu beantworten. Doch darin liegt letztlich für mich auch die Stärke von Hazals Geschichte. In den Momenten, die schwierige Fragen aufwerfen. Die Fragen, die mitten rein gehen ins Unausgesprochene, Tabuisierte und Ambivalente und dich dadurch irritieren, beschämen, oder verängstigen. Oder wütend machen. In den stimmigen Momenten des Romans erlebe ich als Leserin die Gefühle mit, mit denen die fiktive Figur Hazal als junge Frau mit türkischen Wurzeln ohne Ausbildungsstelle zu kämpfen hat. All die Gefühle, die sie ihre eigene Theorie darüber haben entwickeln lassen, weshalb Herzen brechen: „Wegen der Ellbogen, die uns das Leben reingerammt hat, immer wieder, und immer noch. Überall nur Ellbogen von denen, die stärker sind als wir“ (237).
Fatma Aydemir. Ellbogen. 1. Auflage. München: Carl Hanser Verlag. 2017.
Credits
Text: Ahu Tanrısever
Buchcover: Carl Hanser Verlag München