Rhythmus als universelle Sprache

Zu Gast bei Regisseurin Eva Stotz

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Die Regisseurin Eva Stotz kam 2013 nach Istanbul, um zusammen mit der niederländischen Stepptänzerin Marije Nie einen Film über die Stadt zu drehen. Dabei gerieten die beiden unerwartet in die derzeitigen Gezi-Proteste, die sich zunächst gegen die Bebauung des Gezi-Parks im Stadtzentrum richteten. So entstand der außergewöhnliche Kurzfilm One Million Steps, der gleichzeitig zu einem Zeitdokument wurde. Eva hat uns vom Entstehungsprozesses ihres Filmes, der einzigartigen Dynamik und dem nachhaltigen Eindruck der Stadt auf sie erzählt. renk. präsentiert am 24.10. zusammen mit Eva die Deutschlandpremiere ihres Filmes in der Blogfabrik.

Wie haben Marije und du zusammen gefunden und wie ist die Idee entstanden gemeinsam einen Film zu machen?
Ich traf Marije Nie in einem schrägen Amsterdamer Wohnzimmerclub. Es war das erste mal, dass ich Stepptanz live sah, und als sie loslegte dachte ich sofort an eine Filmfigur. Die Kombination aus Wut und Humor fand ich sehr spannend. Ich plante zu dem Zeitpunkt bereits einen Film, der ohne Worte funktionieren sollte. Wenn man die Sprache weglässt, dann bleibt noch Musik und Rhythmus. Da Stepptanz vor allem Rhythmus ist, schien es als das perfekte Vehikel. Marije und ich entwickelten die Idee sich darüber einer Stadt anzunähern, um etwas über die Menschen und den Ort zu erfahren. Zu Rhythmus zählen ja auch Körperhaltungen, die Geschwindigkeit in der die Menschen gehen, die Architektur, die das vorgibt und natürlich die typischen Klänge einer Stadt.

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Wieso habt ihr euch 2013 letztendlich für Istanbul als Drehort entschieden?
Istanbul ist auf der klanglichen Ebene sehr spannend. Baulärm von Abriss und Neubauten, sagenhaftes Verkehrschaos neben Muezzingesänge und dem zeitlosen Plätschern vom Bosporus. Die Stadt vereint viele verschiedene Geschwindigkeiten – sie wächst und zerfällt gleichzeitig und an anderen Stellen scheint die Zeit seit Jahrhunderten stehen geblieben. Dass so eine rasche Veränderung Konflikte erzeugt, hörten und spürten wir überall. Und das wollten wir erzählen, denn damit konnten wir unsere Leben in Berlin und Amsterdam identifizieren.

Aber den Ausschlag für Istanbul gab die Verbundenheit der Menschen mit Musik. Sobald Marije auf der Straße tanzte, kam es schnell zum Austausch, denn die Leute begannen zu klatschten oder sangen dazu. Diese Offenheit gab uns die Zuversicht, dass der Film funktionieren kann. Dass wir just vor Ort waren, als die Proteste ausbrachen, war pure Fügung.

Welche spezielle Begegnung hat dich während der Proteste persönlich am meisten geprägt?
Gänsehaut hatte ich jedes Mal beim abendlichen Lärmen mit Töpfen und Pfannen Tencere tava, wenn sich alle Istanbuler aus dem Fenster lehnten und ihre Unzufriedenheit mit gemeinsamen Lärm ausdrückten. Der Sound verband die verschiedenen Menschen in den Stadtteilen miteinander und war nicht zu überhören von denen, an die sich der Protest richtete. Einfach und effektiv – sollten wir alle öfter mal tun.

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Was mich jedoch am meisten geprägt hat, war zu sehen zu welcher Kreativität und Solidarität anonyme Stadtbewohner in der Lage sind. Auf dieser Grünfläche im Zentrum Istanbuls war kein Staat vorhanden. Die Leute organisierten sich selbst und übernahmen Verantwortung für ihre Zeltstadt, die sie errichtet hatten. Status, Konfession und Nationalität spielten keine Rolle, jeder trug etwas seinen Möglichkeiten entsprechend bei und es entstand etwas Wunderbares. Unter Druck entsteht ein Diamant – hier war es die brutal angreifende Polizei, die von außen soviel Druck auf die Menschen im Gezi Park aufbaute, sodass innen ein Diamant entstehen musste. Hier stellte man fest, wie ähnlich man sich war und konnte Politik auf Augenhöhe verhandeln: voller Humor, kreativ und respektvoll. Dass so etwas in der Türkei möglich ist, in einer hoch politisierten und gespaltenen Gesellschaft, hat mir viel Hoffnung gemacht. Nicht nur für die Türkei, sondern für alle, die in globalisierten Städten leben. Gezi hat mir klar gemacht, dass wir den Wert, gemeinsam in einem Park sitzen zu können, hoch schätzen müssen. Denn solche Freiräume sind wesentlich, um anderen zu begegnen, sich auszutauschen, und auf Graswurzeln sitzend, eine Veränderung zu starten.

Wie hat sich die Stimmung in Istanbul seit 2013 in deinen Augen verändert?
Ich war dieses Jahr im Juni kurz nach den Parlamentswahlen für die Premiere von One Million Steps in Istanbul. Obwohl die Euphorie von damals einer Ernüchterung gewichen ist, ist die Erinnerung an Gezi in den Menschen sehr lebendig. Die Bäume im Gezi Park stehen noch – der Kampf um die Bäume ist gewonnen. Doch es geht den Menschen natürlich um viel mehr. Der Weg zu echter Meinungs- und Glaubensfreiheit, demokratisch gefällten Entscheidungen, weniger Korruption in Politik und Wirtschaft scheint im Moment sehr lang. Doch niemand kann die Erinnerung und Erfahrung rückgängig machen, die im Gezi-Park entstanden sind und alle die davon berührt waren, werden das weitergeben. Der Anfang für eine Veränderung ist gemacht.

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Welche Auswirkungen hatte Gezi auf die türkische und deutsche Kunstszene?
Gezi hatte eine immense Strahlkraft auf die internationale Szene, es waren Künstler aus aller Welt im Park. Die Türken haben alle durch ihren Umgang mit den neuen Medien inspiriert. Kunst ist einfach ein starkes Mittel um den Status Quo einer Gesellschaft zu hinterfragen. Man merkte beim Gezi Protest, dass jeder eingeladen war sich politisch und kreativ zu äußern. Das hat das Elitäre des Kunstbetriebs außer Kraft gesetzt und das war ein wichtiger Impuls. So war es auch für uns in Ordnung, Stellung zu einem Konflikt zu beziehen, der nicht in unserem Land stattfindet und eigentlich nicht unserer ist. International hat es den Austausch sehr bereichert.

Du wirst demnächst noch ein halbes Jahr in Istanbul verbringen. Welche Projekte sind geplant?
Ich werde in einem Haus mit mehreren Kreativen zusammen leben, die alle in einem türkisch-deutschen Kontext arbeiten. Daraus werden sich hoffentlich bereits einige Kooperationen ergeben. Natürlich werde ich One Million Steps weiterhin zeigen und bin gespannt, was daraus noch entsteht. Außerdem möchte ich mehr über die vielen Flüchtlinge in Istanbul erfahren und werde Türkisch lernen. Das kann ich dann hoffentlich auch später, zurück in Berlin, anwenden.

Am 24. Oktober ist es nun soweit. Wir laden gemeinsam zur Deutschland-Premiere von One Million Steps in der Blogfabrik. Der Abend wird mit einem Sektempfang und einer kleinen Lesung des beim binooki-Verlag erschienenen Erzählbandes Gezi – Eine literarische Anthologie beginnen. Im Anschluss an den Film folgt ein Gespräch mit Eva, Marije und dem Istanbuler GIF-Künstler Erdal Inci. Anschließend wird Marije eine Stepptanz-Performance zum Besten geben. Abgerundet wird das ganze mit Livemusik der Bağlama-Spielerin Petra Nachtmanova samt Band.

Holt euch euer kostenloses Ticket und kommt vorbei!

Wo: Blogfabrik, Oranienstr. 185, 10997 Berlin
Wann: Samstag, 24.10.15, 19.30 Uhr: Sektempfang

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Credits
Text: Wiebke Finkenwirth
Fotos: Melisa Karakus

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