Erasmus ist ein Programm der Europäischen Union, an dem neben den Mitgliedsstaaten auch Island, Norwegen, die Schweiz sowie Liechtenstein und die Türkei teilnehmen. Es gibt wohl kaum etwas in der kriselnden und oft uneinigen EU, das so uneingeschränkt erfolgreich war und ist, wie dieses Programm. Die Zahlen der Teilnehmenden steigen stetig. 2015 machten 81.000 Menschen aus Deutschland einen Erasmus-geförderten Austausch, in ganz Europa waren es 678.000 Menschen.
Und die Türkei lag lange Zeit als Austauschland voll im Trend: 2014 rangierte sie laut Deutschem Akademischen Austauschdienst (DAAD) auf Platz sechs der beliebtesten Ziele deutscher Studierender. Im Netz verfügbare Erfahrungsberichte überschlagen sich vor Begeisterung. Ein Student von der Uni Bremen fasst seinen Erasmus-Aufenthalt an der Marmara Universität Istanbul im Wintersemester 2012/2013 mit den Worten zusammen: „In jedem Fall ist Istanbul die perfekte Wahl.“
1240 Erasmus-Studis seien 2017 aus Deutschland in die Türkei gegangen, im Jahr zuvor waren es noch doppelt so viele.
Zuletzt aber ist die Anzahl der Austauschstudierenden rapide eingebrochen. Der DAAD erklärte im Sommer 2017, sie hätten sich sogar halbiert. 1240 Erasmus-Studis seien aus Deutschland in die Türkei gegangen, im Jahr zuvor waren es noch 2250. Vor allem im Wintersemester 2016/2017 sei das Interesse an einem Studium in der Türkei, so der DAAD, erheblich zurückgegangen. Die Ursachen sieht er in der „gesamtgesellschaftlichen Situation“, den vielen Terroranschlägen, dem Putschversuch vom Juli 2016 und allem, was danach passiert ist.
Erst Erasmus, dann Einreiseverbot
Im Rahmen des Erasmus-Programms studierte die Berlinerin Sarah L. von August 2014 bis Juni 2015 ein Semester an der Hacettepe-Universität in Ankara. In den nächsten fünf Monaten absolvierte sie ein Praktikum in Istanbul bei der NGO Halkevleri. Danach wollte Sarah noch ein paar Monate Urlaub in der Türkei machen, bevor sie nach Deutschland zurückkehren würde.
Es war die Zeit nach Gezi. Die Zeit, in der die AKP erstmals, seit sie das Land regierte, bei einer Parlamentswahl (im Juni 2015) die absolute Mehrheit verlor, Neuwahlen ausrief und der Konflikt mit der PKK wieder aufloderte. Und es war die Zeit vieler Terroranschläge. Sarah L. hat zwei von ihnen als Augenzeugin miterlebt.
Sarah war bei jener Friedensdemonstration in Ankara anwesend, bei der mehr als 100 Menschen wegen eines IS-Selbstmordattentäters ihr Leben verloren.
Anfang Juni, kurz vor der Wahl, nahm sie im Rahmen ihres Erasmus-Praktikums als Beobachterin bei einer Wahlkampfkundgebung der linken, pro-kurdischen Partei HDP in Diyarbakır teil. Durch eine Explosion wurden dort fünf Menschen getötet und mehr als 100 Menschen verletzt. Vier Monate später war Sarah bei jener Friedensdemonstration in Ankara anwesend, bei der mehr als 100 Menschen wegen eines IS-Selbstmordattentäters ihr Leben verloren. Sarah verließ daraufhin das Land.
Die Erlebnisse ließen die Studentin aber nicht mehr los. Drei Monate nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 wollte Sarah erneut in die Türkei reisen, um dieses Mal an einer Gedenkfeier für die Opfer des Terroranschlages in Ankara teilzunehmen. Am Flughafen wurde sie von der Polizei für 24 Stunden festgehalten. Weder wurde die deutsche Botschaft informiert, noch durfte Sarah ein Telefonat führen. Später setzte man sie in ein Flugzeug zurück nach Deutschland. Gegen sie war ein Einreiseverbot verhängt worden, weil sie eine „Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ darstelle.
Sarah L. legte mithilfe eines Anwalts Einspruch bei einem türkischen Verwaltungsgericht gegen das Einreiseverbot ein. Das Verfahren ist bis heute anhängig. Aus Angst vor einer Verhaftung würde sie heute allerdings ohnehin nicht mehr in die Türkei reisen, so Sarah.
Der Exodus der Gelehrten
Auch der DAAD zeigt sich äußerst besorgt um die Lage in der Türkei und an den Universitäten. Schon am 20. Juli 2016 veröffentlicht die Präsidentin des Austauschdienstes, Margret Wintermantel, eine Stellungnahme: „Mit großer Sorge beobachten wir die aktuelle Situation in der Türkei“, heißt es dort. Und: „Die massive und substanzielle Verletzung der Autonomie der türkischen Hochschulen ist nicht hinnehmbar.“ Der Anlass dieser Erklärung war, dass der türkische Hochschulrat es Akademikern noch im Juli 2016 verbot, Forschungsreisen ins Ausland zu unternehmen.
Nach dem Putschversuch wurde der gesamte öffentliche Dienst der Türkei „gesäubert“. Mehr als 140 000 Staatsdiener wurden entlassen oder suspendiert, auch an den Universitäten des Landes wurden etliche Professoren und Dozenten entlassen. Dies führte dazu, dass an vielen Instituten Forschung und Lehre de facto nicht mehr möglich sind.
Neben der Frage, ob ein Erasmus-Aufenthalt am Bosporus noch sicher ist, stellt sich also auch die Frage, ob Qualität und Unabhängigkeit der Lehre an türkischen Universitäten gewährleistet werden können. Die Antwort muss derzeit wohl lauten: Nein.
Hat Erasmus überhaupt noch eine Zukunft?
Wer die aktuellen Debatten in Deutschland und der EU verfolgt, muss sich aber auch noch eine weitere Frage stellen: Hat die Türkei als Teil des Erasmus-Programms überhaupt noch eine Zukunft? Denn: Das Programm hängt auch an dem Status des Landes als EU-Beitrittskandidat. Von den sogenannten Vorbeitrittshilfen, also jenem Geld, das die Türkei als Kandidat erhält, fließt ein Teil in den Bildungsaustausch. Werden die Verhandlungen über den EU-Beitritt auf Eis gelegt oder gar ganz abgebrochen, wie es derzeit quer durch alle politischen Lager in Deutschland diskutiert wird, könnte das das Ende für Erasmus bedeuten.
„Lasst uns nicht mit Erdoğan allein“, sagen liberal gesinnte Journalisten und Oppositionelle aus der Türkei zum Thema EU-Beitrittsverhandlungen.
Sarah fände das tragisch. Mit einer Antwort auf die Frage, ob man ihrer Ansicht nach in diesen Zeiten noch als Erasmus-Student*in in die Türkei gehen könne, tut sie sich schwer. „Ich bin da geteilter Meinung“. Denn: „Wenn alle der Türkei fernbleiben, kann die Regierung dort noch mehr machen, was sie will.“
Das ist eine Richtung, in die auch viele Kommentare liberal gesinnter Journalisten und Oppositioneller aus der Türkei gehen beim Thema EU-Beitrittsverhandlungen. „Lasst uns nicht mit Erdoğan allein“, ist der Tenor. Ein Appell, den man sich vielleicht – aller existierenden Gefahren und Beschränkungen zum trotz – auch beim Thema Erasmus zu Herzen nehmen sollte.
Text: Nelli Tügel
Bilder: Shutterstock