Die Bedeutung Emine Sevgi Özdamars, 1946 in Malatya geboren, für die deutsche Gegenwartsliteratur zu übertreiben, ist schwer möglich. Als Schriftstellerin, Schauspielerin und Theaterregisseurin prägten sowohl ihre Theaterinszenierungen, beginnend mit dem 1986 uraufgeführten Stück Karagöz in Alamania, als auch ihre literarischen Publikationen die Kulturlandschaft in Deutschland nachhaltig.
1992 gewann Özdamar mit ihrem Roman Das Leben ist eine Karawanserei – hat zwei Türen – aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus schließlich als erste auf Deutsch schreibende Preisträgerin, „deren Muttersprache nicht Deutsch ist“, den Ingeborg-Bachmann-Preis. Zahlreiche Publikationen sowie Auszeichnungen und Würdigungen der heute in Berlin lebenden Autorin folgten bislang – darunter am bekanntesten ihre Berlin-Istanbul-Trilogie, die neben Das Leben ist eine Karawanserei die Romane Die Brücke vom Goldenen Horn (1998) und Seltsame Sterne starren zur Erde (2003) umfasst.
Die Freude am Spiel mit Worten und Lauten
In einem Interview 2011 beginnt Özdamar ihre Antwort auf eine Frage nach ihrem ersten Aufenthalt in Deutschland 1965 als „typisch türkische Gastarbeiterin“ wie folgt: „Ich liebe das Wort Gastarbeiter. Ich sehe immer zwei Personen vor mir: eine ist Gast und sitzt da, die andere arbeitet.“2 Herrlich – genau mein Humor. So wie in folgender Passage eines Dialoges zweier Figuren an einem Grenzübergang nach Deutschland:
„Der Paßbeamte fragte den illegalen Arbeiter, der sich als Fußballer verkleidet hatte: ‚Ihre Pässe, bitte. Türke?’
Fußballer: ‚Türküz.’
Der Paßbeamte sagte: ‚In die Bundesrepublik?’
Fußballer: ‚Bunepislik.’“ [„Bu ne pislik.“/dt.: ‚Was ist das für ein Dreck bzw. eine Sauerei?’]
(Karagöz in Alamania, 72)
Dieser leichtfüßige Scharfsinn Özdamars – ihre offensichtliche Freude am Spiel und Witz mit Worten und Lauten sowie ihr dichtes literarisches Netz aus intertextuellen Anspielungen – scheint in jedem der Texte im Erzählband Mutterzunge durch.
Subversive Prosa
Die 1990 veröffentlichte Sammlung Mutterzunge beinhaltet die drei Erzählungen „Mutterzunge“, „Großvaterzunge“ und „Karriere einer Putzfrau, Erinnerungen an Deutschland“ sowie das Theaterstück „Karagöz in Alamania“. „In meiner Sprache heißt Zunge: Sprache“ (7), beginnt die titelgebende Erzählung und kündigt an, was im gesamten Band ästhetisch und inhaltlich zentral sein wird, nämlich das Aufbrechen kultureller Hierarchisierungen und transkulturelle Intertextualität. Mutterzunge ist ein postkolonialer Text im besten Sinne, der Türkisch und Deutsch gleichwertig nebeneinander in Erscheinung treten lässt, türkische Sprichwörter in ihrer wortwörtlichen Übersetzung widergibt und den auf Deutsch verfassten Text oft in eine türkische Satzstruktur packt. Mutterzunge ist subversive Prosa. In jede ihrer Zeilen ist Widerstand eingeschrieben.
Vom Sprechen zwischen Kulturen und Generationen
Es ist die erste der Erzählungen im Band, die mich emotional am meisten berührt, denn mit berauschender Sprachgewalt geht es hier um das Vereinende, aber auch Herausfordernde vom Sprechen zwischen Kulturen und Generationen.
„Wenn ich nur wüßte, wann ich meine Mutterzunge verloren habe. Ich und meine Mutter sprachen mal in unserer Mutterzunge. Meine Mutter sagte mir: ‚Weißt du, du sprichst so, du denkst, daß du alles erzählst, aber plötzlich springst du über nichtgesagte Wörter, dann erzählst du wieder ruhig, ich springe mit dir mit, dann atme ich ruhig.’ Sie sagte dann: ‚Du hast die Hälfte deiner Haare in Alamania gelassen.’“ (7)
Was mich berührt, ist die Alltäglichkeit der Szene, die Özdamar in der Erzählung „Mutterzunge“ wählt um aufzuzeigen, welche Wirkungsmacht Sprache im Kontext von Migration und soziokulturellem Wandel hat. Es genügt ein Satz – „ich springe mit dir mit, dann atme ich ruhig“ – in diesem Gespräch zwischen Mutter und Tochter und ich bin ganz bei ihnen und ihrer Beziehung, die sie sich auch über sprachliche Hürden hinweg erhalten.
„In der Fremdsprache haben Wörter keine Kindheit“
Die namenlose Protagonistin aus der ersten Erzählung ist es auch, die sich in „Großvaterzunge“ aufmacht, zu ihren sprachlichen Wurzeln zurückzufinden. Ich folge ihr auf der Reise. Wie in einem Wahn verfolgt sie ihr Ziel, Arabisch zu lernen, die Sprache ihres Großvaters vor den Sprachreformen der türkischen Republik, das im Türkischen auch heute noch durch zahlreiche Lehnworte präsent ist. Die Suche der Protagonistin nach ihrer Kindheit mündet dabei unwillkürlich auch in einer Suche nach Liebe. So bietet Özdamar uns neben langen Listen fast schon schmerzlich schön klingender türkischer Worte arabischen Ursprungs gleichzeitig zeitlose Bilder vom schönen Schmerz der Liebe: „Die Liebe ist ein leichter Vogel, setzt sich leicht irgendwohin, aber steht schwer auf“ (37).
Eine Bühne für die Arbeiterklasse
In dem sich anschließenden Theaterstück „Karagöz in Alamania“ (dt.: Schwarzauge in Deutschland) und der abschließenden Erzählung „Karriere einer Putzfrau, Erinnerungen an Deutschland“ stehen von der Mehrheitsgesellschaft als „Gastarbeiter*innen“ definierte fiktive Figuren im Zentrum. Wird das Schicksal des Karagöz, der der türkischen Tradition des Schattentheaters entnommen ist, noch tragikomisch portraitiert, so verdichten sich Stimmung und Ton in der Ich-Erzählung einer namenlosen Putzfrau an einem deutschen Theater.
Im Laufe dieser Geschichte voller literarischer Zitate und Anspielungen entfaltet sich die Tragik einer Person, deren komplexe Identität im Moment der Grenzüberschreitung auf ihren legalen Status als Gastarbeiterin reduziert wird. Vor meinen Augen füllen sich die Seiten mit all ihrem Wissen über Literatur und Schriftsteller*innen. Vor meinem inneren Auge wird der leere Theatersaal, den sie putzt, zunehmend bevölkert mit Hamlet und Woyzeck und Medea und vielen mehr. Auch das stärkste Bollwerk aus hochkulturellen Referenzen und intertextuellen Zitaten kann sie jedoch letztlich nicht schützen:
„‚Ich bin so eine schöne Frau, ich kann auch Schauspielerin sein an diesem Theater’, habe ich gesagt. ‚Hier ist die Bohnermaschine, die Bühne wird täglich gebohnert, haben sie gesagt, nein, hier ist die Bohnermaschine haben sie gesagt, die Bühne wird täglich gebühnert, die Bohne wird täglich gebohnert, nein, nein, die Bühne wird täglich gebohnert.’“ (127)
Ein Geschenk der „ersten“ Generation an alle folgenden
Özdamars Erzählband beginnt für mich genau genommen bereits mit der Widmung des Buches: „Für meine Mutter Fatma Hanim“, heißt es da. Diese Worte lassen mich die Welt an Generationenverflechtungen und Migrationsgeschichten erahnen, die die Bewegungen zwischen der Türkei und Deutschland seit dem Anwerbeabkommen von 1961 entstehen ließen. Mutterzunge ist eine literarische Verhandlung von Migrations-, Identitäts- und Diskriminierungserfahrungen einer Schriftstellerin, die der sogenannten „ersten“ Generation in Deutschland lebender Menschen mit türkischen Wurzeln angehört.
Mutterzunge ist auch ein bildgewaltiges Erlebnis, das die türkische und deutsche Sprache auf ästhetisch einnehmende Weise miteinander verwebt. Vor allem aber ist Mutterzunge ein Geschenk an die sogenannte zweite Generation und an alle folgenden, mit und ohne Migrations- oder Fluchtgeschichten, denn sie zeugt von der atemberaubenden literarischen Vielfalt, Schönheit und Kraft, die durch Transkulturalität hervorgebracht wird.
Emine Sevgi Özdamar. Mutterzunge. Berlin: BEBUG mbH/Rotbuch Verlag. 2013. (Zuerst erschienen 1990)
Text: Ahu Tanrısever
Buchcover: RotbuchVerlag
Portrait: BEBUG / Rotbuch Verlag