Eine Zeitreise in die Türkei

Oder: Wenn es vor fünfzig Jahren Travelblogs gegeben hätte

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Heute sehen wir sie überall: Reiseblogger. Mit ihren Reisetagebüchern, Fotos und Hashtags wie z.B. #welltravelled teilen sie ihre Erlebnisse mit der ganzen Welt. Heutzutage holt man sich von ihnen Inspiration für die nächste Reise oder auch einfach das Fernweh. Doch wie könnten die Aufnahmen eines Reisebloggers vor knapp fünfzig Jahren ausgesehen haben?

Fotograf und Illustrator Wilfried Gebhard zeigt es uns in seinem Bildband Türkei 1966. Bilder einer Reise, in dem er den Betrachter mit auf eine Zeitreise nimmt. Hier erzählt er von seinen schönsten Erinnerungen.

Ein Händler in Mardin 1966

Die Reise beginnt

Es ist Ende Juli im Jahr 1966.

Nach vierundfünfzig Stunden Bahnfahrt erreichte ich den Bahnhof Sirkeçi in Istanbul und startete meine mehrwöchige Reise durch die Türkei. Gleich am nächsten Tag ging es weiter – Istanbul hob ich mir für das Ende meiner Zeit in der Türkei auf.

Mein Reisegepäck war eine Fototasche gefüllt mit knapp fünfzig Rollfilmen, zum Großteil Ilford HP3, Kamerazubehör und einer Rolleiflex T mit Zeiss-Tessar 75mm f/3,5. Der Platz, der in der Tasche übrigblieb, reichte gerade noch für ein Skizzenbuch, Stifte, etwas Waschzeug, eine Zahnbürste und ein Handtuch. Die Kleidung, die ich benötigte, trug ich am Leib. Abends wurde sie gewaschen und am nächsten Morgen war sie wieder trocken.

Manchmal reiste ich auf Ladeflächen von Lastwagen, auf einem Langholzwagen auf Stämmen sitzend oder auch auf dem Holzsattel eines Pferdes.

Ağrı im Osten der Türkei

Die Tour ging von Istanbul aus über Bolu ans Schwarze Meer nach Sinop. Von dort aus mit dem Schiff nach Trabzon, weiter über Erzurum, den Vansee in den Süden nach Diyarbakır, dem phantastischen Mardin und kreuz und quer durch das Land zurück zum Ausgangspunkt in Istanbul. Meist nahm ich öffentliche Verkehrsmittel, den Bus oder das Dolmuş (Sammeltaxi). Manchmal reiste ich auf Ladeflächen von Lastwagen und einmal auch auf einem Langholzwagen auf Stämmen sitzend. Unbequemer, dafür aber nicht ganz so abenteuerlich, war es auf dem Holzsattel eines Pferdes.

Ein Bazar in Mardin
Blick über Mardin

Rückblickend denke ich heute manchmal darüber nach, wie praktisch es gewesen wäre, hätte es damals schon Digitalkameras gegeben. Um Filmmaterial zu sparen oder weil es die Technik noch nicht ermöglichte, wurden viele Aufnahmen leider nicht gemacht, obwohl sie es wert gewesen wären.

Da denke ich beispielsweise an eine nächtliche Hochzeitsfeier, zu der ich eingeladen war. Die Stimmung und das spärliche Licht in einem Innenhof ist und bleibt für mich unvergesslich. Die Männer tanzten und schlugen den Rhythmus zum Tanz kastagnettengleich mit Holzlöffeln in den Händen. Die Frauen saßen in einer Ecke des Hofes beieinander, tuschelten und lachten viel. Die Menschen ließen sich gerne fotografieren. Manchmal warfen sie sich in Positur, wenn sie meine Kamera sahen und deuteten mir an, ich solle ein Bild von ihnen machen. Oft tat ich nur so.

Eine Türkei der Sinne

Die Märkte und Bazare waren faszinierend. Schade, dass ich die Gerüche nicht auch auf den Bildern festhalten konnte. Der Duft der Gewürze und von Şişkebab, Döner oder gegrilltem Fisch steigt mir heute noch in die Nase, wenn ich an meine Reise denke. Auch die Geräusche habe ich noch im Ohr. Ich hörte lautes Anpreisen von Waren oder Dienstleistungen und überall Musik, die meist aus scheppernden Lautsprechern der Teestuben kam.

Diese Teestuben waren spannende Orte: Ich konnte stundenlang die Männer beobachten und fotografieren, die alleine vor sich hin sinnierten oder in Gruppen laut palavernd, Tavla (Backgammon, A.d.R.) spielend ihren Çay tranken.

Wenn ich sagte, dass ich aus Deutschland bin, rieb man häufig die Zeigefinger aneinander und sagte „Türk-Alman-Arkadaş” – Türken und Deutsche sind Freunde.

Eine Teestube in Diyarbakir

Oft wurde ich zum Tee eingeladen und nach meiner “Memleket“, meiner Heimat, gefragt. Ich musste erzählen, was ich mache und wie mir die Türkei gefällt. Wenn ich sagte, dass ich aus Deutschland bin, rieb man häufig die Zeigefinger aneinander und sagte „Türk-Alman-Arkadaş” – Türken und Deutsche sind Freunde. Im Osten des Landes hielt man mich immer wieder für einen Mekkapilger – wohl wegen meines Bartes. Die großen kulturellen Höhepunkte wie Moscheen, Museen und Grabungsstätten, die es auf der Reise zu besichtigen gab, habe ich nicht ausgelassen. Fotografisch jedoch hat mich das Leben der Menschen, der Landschaften und vermeintlichen Kleinigkeiten viel mehr interessiert als die Kulturstätten – heute nennt man das wohl “Streetphotography”. Eine Ausnahme stellen dabei Malereien der Felskirchen der Gemeinde Göreme in Kappadokien dar. Von der bezaubernden Landschaft, in der ich mich eine ganze Woche aufhielt, hätte ich viel mehr Bilder mit nach Hause bringen müssen.

Ein Mann in Ağrı, im Osten der Türkei
Ein Viertel in Bolu

Ein weiteres besonderes Erlebnis waren die antiken Städte Pergamon und Ephesos. Ganz alleine saß ich hoch oben in den Rängen eines der Theater und konnte mich in die Zeit der Antike tagträumen. Unten, da wo einst griechische Dramen dargeboten wurden, grasten Ziegen. Heute wimmelt es dort nur so von Touristen. Ein Bild, das nur in meiner Erinnerung festgehalten ist – leider nicht auf Zelluloid. Denn gegen Ende der Reise wurden meine Filme knapp und auch die Finanzen. Das Geld hatte ich mir während der Semesterferien zuvor in Nachtschichten in einer Buchbinderei verdient. 1000 DM reichten für das knappe Vierteljahr.

Istanbul war dann der krönende Abschluss meiner Tour. Mein dortiger Aufenthalt dauerte zehn Tage – viel zu kurz für diese spannende Stadt, die nie zur Ruhe kommt.

Ein Händler in Istanbul

Es fiel mir schwer, Istanbul zu verlassen. Und doch sollten nahezu fünfzig Jahre vergehen, bis ich zurückkam.

Das Leben pulsierte bereits damals so wie heute. Einer meiner liebsten Plätze war die Galatabrücke über dem Goldenen Horn. Oben tobte der rege Verkehr zwischen den Stadtteilen und unter der Brücke sah ich kleine Teestuben, Restaurants, Geschäfte und Fischer, die ihren Fang gleich auf dem Boot brieten und lautstark anboten. Möwengeschrei, das Tuten der Rauchwolken ausstoßenden Fähren – unvergessliche Eindrücke. Es fiel mir schwer, die Stadt zu verlassen. Es sollten nahezu fünfzig Jahre vergehen, bis ich zurückkam.

Eine Teestube im Istanbuler Viertel Kumkapi

Wiedergefundene Erinnerungen

Wieder zu Hause in Stuttgart wurde es spannend: Haben die Filme die Reise und die hohen Temperaturen gut überstanden? Sind die Bilder überhaupt gut geworden?

Meine Erfahrung mit Dunkelkammern war zu der Zeit nicht sehr groß, das Ergebnis der Abzüge entsprechend bescheiden. Das Studium und der berufliche Weg waren wichtiger und so wurde das Negativmaterial zwar nicht vergessen, lag aber doch bis zum Jahr 2013 unbeachtet in der Schublade. Bis sie mir dann bei Aufräumarbeiten wieder in die Hände fielen. Neugierig darauf, was die Negative wohl hergeben, machte ich Scans von ihnen. Schließlich entstand daraus ein Buch – zunächst nur für mich. Zuspruch von Freunden führte schließlich 2014 zur Veröffentlichung meines Buches mit dem Titel Türkei 1966. Bilder einer Reise.

Zum Fotografen

Wilfried Gebhard ist 1944 in Crailsheim geboren, in Stuttgart aufgewachsen und lebt heute in Maulbronn.

Neben Veröffentlichungen in zahlreichen Magazinen und Zeitschriften erschienen 1989 seine ersten Cartoonbücher und Arbeiten fürs Kinderfernsehen. Seit 1992 war er als Autor und Illustrator von Kinderbüchern bei verschiedenen Verlagen tätig.

Augenprobleme machen die Arbeit auf dem Papier immer schwieriger. So hat er die Fotografie für sich wieder entdeckt. Diesen Sommer waren seine Fotos im Museum für Fotografie in Istanbul zu sehen.

Mehr Fotoserien von Wilfried Gebhard findet ihr hier.

 

 

 

 

 

 

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