Am 06. Februar 2023 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7,8 den Südosten der Türkei und den Norden Syriens.
Noch heute leiden die Betroffenen an den Folgen des Erdbebens. Mehrere Hundertausende verloren ihr Zuhause, ob sie jemals zurückkehren können, ist unklar.
Unsere Gastautorin Rojda Çomak stammt aus Pazarcık, mitten im Epizentrum des Erdbebens. Als Person, dessen Familie ein Jahr später noch immer täglich mit den infrastrukturellen und mentalen Konsequenzen der Naturkatastrophe konfrontiert ist, möchte Rojda ihre Eindrücke, die sie auf einer Reise nach Pazarcık sammeln konnte, mit uns teilen.
,,Damit die Menschen nicht in Vergessenheit geraten und damit allen das Ausmaß der Katastrophe klar wird’’.
» Für uns in Deutschland Lebende, mit Familie in den betroffenen Gebieten war der 6. Februar ein sehr dunkler Tag. Der Stadtteil des Epizentrums Gaziantep (Bayatlı) liegt direkt an der Grenze zu Kahramanmaraş (Türküoğlu und Pazarcık). In Pazarcık lebt meine Familie, dort liegen meine Wurzeln. Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Die Welt stand plötzlich still und die einzige Frage von Bedeutung war: „Leben sie noch?“.
An dem Morgen, war mein Handy vollgespammt mit Nachrichten: „Geht es deiner Familie gut?“. Ich ging die Treppen hinunter zu meiner Familie, weil ich total überfordert war, doch keiner sprach mit mir. Auf meine Frage, „Lebt Oma noch?“, folgte nur Stille. Mein Vater kramte aufgewühlt in Unterlagen herum und räumte auf. Später erzählte mir mein Bruder, dass mein Vater in der Nacht kurz nach dem Erdbeben einen Videoanruf meines Onkels bekam, der ihm weinend sein eingestürztes Haus zeigte. Von da an war mein Vater traumatisiert. «
Stunden der Ungewissheit
» In den ersten Tagen nach dem Erdbeben erreichten wir die Familie nur ein einziges Mal telefonisch. Die meisten Betroffenen hatten keine funktionsfähigen Handys mehr und falls sie eins hatten, machte ihnen der Akku zu schaffen. Wir waren froh und erleichtert über das kurze, telefonische Lebenszeichen meiner Cousins. Doch die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Ich erfuhr später, dass mein Cousin nach dem Erdbeben unter dem Haus festgesteckt hat und sich nur schwer aus den Trümmern befreien konnte. Auch meine Oma lag unter den eingestürzten Mauern des Hauses. Sie wurde rechtzeitig entdeckt und konnte gerettet werden. Mein Onkel und seine Frau schafften es, durch ein Fenster herauszuklettern. Obwohl wir nicht am eigenen Leib betroffen waren, setzte uns die Katastrophe psychisch sehr zu. Ich fragte mich: ,,Wenn es uns schon so schlecht geht, wie soll es dann den Menschen vor Ort gehen?“. «
Die veränderte Heimat
» Einige Monate nach dem Erdbeben reisten immer mehr Verwandte in die Heimat Pazarcık (Kahramanmaraş). Egal wer nach seiner Reise anrief, alle erzählten, dass Pazarcık nicht wiederzuerkennen ist. Ihre Reisen gestalteten sich als traumatisches Erlebnis, das sich tief eingebrannte. Mental nahm mich das sehr mit und immer wieder fragte ich mich: „Darf ich mich über meinen mentalen Zustand beschweren, wenn es ihnen viel schlimmer geht?“.
Bis ich selbst sechs Monate später zu meiner Familie reiste, änderte sich einiges. Die Familie meines Onkels lebte zuerst auf der Straße, dann in einer Unterkunft mit vielen Menschen und am Ende in einem Container, bis sie vor kurzem in der Stadt Gaziantep eine Wohnung fanden. Einige Verwandte leben noch immer in Containern und Zelten. Andere mussten ihre Heimat verlassen und sind nach Mersin oder Gaziantep zu ihren Verwandten gezogen. Meine Oma starb, weil sie zu alt war, um unter diesen Umständen zu leben. Generell starben in der Zeit nach der Katastrophe unter den Überlebenden viele ältere und kranke Menschen.«
Überbleibsel
»Der erste Tag meiner Reise war ganz befremdlich. Ich befand mich in einer mir unbekannten Wohnung in einer anderen Stadt (Gaziantep). In Pazarcık kannte sich alle! Jeden Tag kamen Nachbar*innen in unseren Garten, um Tee zu trinken. Die Straßen waren lebendig, doch das sind jetzt alles nur noch Erinnerungen. Pazarcık erkennt man heute nicht mehr wieder. Wir fuhren zu dem eingestürzten Haus meines Onkels, doch an der Stelle, wo einst sein Haus stand, steht nun nur noch ein Container. Die Nachbarhäuser sind stark beschädigt, unbewohnbar oder eingestürzt.
Hinter dem Container liegen die Überreste eines Traktors, der in der Garage unter der Wohnung meines Onkels stand. Meine Familie vermutet, dass sie es ohne ihn nicht lebendig aus dem Haus geschafft hätten. Man erkennt kaum noch, dass es sich um einen Traktor handelt. Mein Cousin Ali Cem (auch Ali genannt) und ich betrachten das Fahrzeug und er sagt: „Siehst du, wie jetzt alles eins mit der Natur wird?“.
Im August, während meines Aufenthaltes in Gaziantep, pendelten wir einige Male nach Pazarcık. Auf dem Weg dorthin fuhren wir einen kleinen Umweg, weil Ali mir einige Stellen zeigen wollte. Wir nährten uns einem Dorf. Mein Cousin Ali sagte: „Siehst du das Dorf? Das nennen wir ,Geisterdorf‘, weil es komplett leergeräumt wurde. Dort weiterhin zu leben, ist zu gefährlich.’’ «
Traumata
» Alis Schwester (meine Cousine Gülsen) kostet es jedes Mal eine große Überwindung, nach Pazarcık zu fahren. Der strenge Geruch vom Asbest der eingestürzten Häuser und das befremdliche Bild der Stadt machen ihr zu schaffen. Als wir an einem der folgenden Tage von einem Tagestrip aus Pazarcık zurückkehren, erzählt sie mir, dass sie seit dem Erdbeben immer wieder Panikattacken erleidet. Schon das Schleudern der Waschmaschine reiche als Trigger.
Jedes Mal, wenn wir nach Pazarcık fuhren, besuchten wir Familienmitglieder, die die Stadt nicht verlassen möchten. Sie leben dort auf engstem Raum zusammen. Meine älteste Tante wohnt im 4. Stock. Mein Cousin Ali Cem wartete vor dem Haus. Seit dem Erdbeben geht er nicht weiter, als in die 2. Etage. Aus der 1. Etage könnte er im Fall der Fälle noch herunterspringen, meinte er.
Auf der Rückfahrt war ich ganz still und lauschte der Unterhaltung meiner Cousine Gülsen und meines Cousins Ali:
„Weißt du noch, als ich im Auto eingeschlafen bin und alles nach Benzin roch und du mich geweckt hast, damit ich nicht sterbe?“, fragte mein Cousin. Als sie obdachlos waren, verbrachten sie eine lange Zeit im Auto. In dieser Zeit war nicht an einen tiefen Schlaf zu denken. Meine Cousine antwortete: „Ja oder als in der Unterkunft jemand gestorben ist und sie die Leiche einfach in die Mitte der Menschenmenge legten, weil sie nicht wussten, wohin mit ihr?“.«
Das Leben in Pazarcık geht weiter
»Sie haben so viel zu erzählen. Oft kommt es einfach so aus ihnen herausgebrodelt. Wie soll man auch sonst den ganzen Schmerz verarbeiten? Wenn man durch Pazarcık läuft, sieht man nur noch Trauer. Das Lächeln der Menschen ist verschwunden…alles ist grau. Mein Cousin Ali fuhr mit mir im Sommer eine kleine Tour durch die Stadt. Während ich Fotos machte, zeigte er auf einen leeren Platz voller Trümmer und sagte, „In diesem Gebäude sind 40 Personen gestorben“. An einer anderen Stelle, etwas weiter, erzählte er von seinem Freund, der das Erdbeben nicht überlebt hatte. Inmitten der Trümmer befinden sich vereinzelte Menschen, die nicht weg möchten. Menschen die in Zelten leben, Menschen die im Container hausen und Menschen wie der Kebabci Sadık.
Er verkauft seinen Kebab weiter auf der Straße, weil sein Geschäft eingestürzt ist – bis heute. Während wir auf unseren Kebab warteten, spazierten wir etwas durch die Straßen. Ich sah andere Läden, die ich nicht kannte. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich bei den Läden um aneinandergereihte Container, in denen die Menschen weiter ihren Geschäften nachgehen.
Und während ich überzeugt war, dass alle stark beschädigten Häuser leer stehen, sah ich, wie Menschen in diese Gebäude gehen, weil sie weiterhin dort leben. Ein Leben in ständiger Angst – aus Verzweiflung und Hilflosigkeit.
Viele Überlebende des Erdbebens mussten bei null anfangen. Sie sind unendlich dankbar für die ganze Hilfe der Menschen, die ihnen Essen, Trinken und Kleidung spendeten, erklärt unsere Autorin. „Viele Menschen verließen ihre warmen Betten und schliefen im Auto auf der Straße, um uns zu helfen“, erzählte ihr Cousin Ali Cem. ,,Darunter waren auch vom Erdbeben Betroffene, die trotz der großen Angst in zugeschüttete Gebäude gingen, um Menschen zu retten. Büyük kahramanlar büyük felaketlerden sonra ortaya çıkarlarmış.“«
Text und Fotos: Rojda Çomak