Ein Interview mit Güneş Gürle

Zwischen Operngesang und deutscher Ordnung

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Papageno, Don Giovanni oder Figaro – die Bassbaritonstimme ist die männliche Gesangstimme zwischen Tenor und Bass. Sie hat Tiefen, aber nicht so wie die schwarze Bassstimme. In einem französisch angehauchten Café in Düsseldorf warte ich auf Güneş Gürle, er ist Opernsänger mit einer bemerkenswerten Vita. Istanbul, Oslo, Wien – überall ist er aufgetreten. Schon vorher habe ich mir auf YouTube Videos von seinen Inszenierungen angeschaut und nicht schlecht über seine Stimmbeherrschung gestaunt. Wenig später werde ich aus meinen Gedanken gerissen, eine unverwechselbare Stimme begrüßt mich.

Als Teenager ging ich dann freitagsabend mit meinen Freunden in die Symphonie

Wie bist du zu deinem Job gekommen?

Als ich 10 Jahre alt war, also so in den 80ern, ging ich samstagmorgens mit meiner Mutter in die Symphonie. Damals gab es nur zwei Vorstellungen Samstagmorgens oder Freitagabends. Als Teenager durfte ich dann auch in die Abendvorstellung mit meinen Freunden.

Es war natürlich nie mein Ziel, klassischer Musiker zu werden. Ich habe Gitarre gespielt und auch mal was von den Beatles gesungen.

Am 7. Juli 1990 änderte sich meine Meinung, nachdem ich den grandiosen Auftritt der drei Tenöre, also Luciano Pavarotti, Plácido Domingo und José Carrerasgab anlässlich der Coppa Italia gesehen hatte. Ich erinnere mich noch genau, wie ich damals versuchte, die Arien mit meiner Teenagerstimme nachzusingen. Es muss peinlich gewesen sein. Meinen Vater konnte ich nicht überzeugen, aber meine Mutter war begeistert. Und wie es nun mal in der Türkei so ist, kannte meine Mutter einige Leute, die wiederum einige Leute kannten, und ich durfte an der Oper vorsingen.

Wie lief deine Karriere in der Türkei ab?

In Istanbul sah es zwischen 2000 und 2002 sehr dünn auf dem Opernsänger-Markt aus. Es gab wirklich viele talentierte Sänger und nur ein Opernhaus. Daher habe ich mich mit einer Gruppe anderer Opernsänger und Kellner zusammengetan und wir haben eine Art Dinner-Oper in renommierten Restaurants in Istanbul gespielt. Wir haben hier sicher fünf bis sechs Mal so viel Geld verdient wie in einem Opernhaus. Wir haben dort die Highlights der Szene interpretiert, während wir Teller ausgeliefert haben. Ein großer Teil stammte damals aus der jüdischen Community. Wir haben zum Beispiel auch viele Bar-Mizwas besungen. Aber dann hat sich mein damaliger Gesangslehrer eingeschaltet und riet mir, an Gesangswettbewerben außerhalb der Türkei teilzunehmen. In Italien, Deutschland oder Österreich. Ich bin nach Wien gegangen und von 3000 Sängern im Finale gelandet. So ein Wettbewerb ist wie ein Markt, hier tummeln sich Agenten und Intendanten der Opernhäuser auf der ganzen Welt. Dort habe ich meinen Agenten kennengelernt, der mich nach Deutschland vermitteln wollte. Und nach mehreren Vorsingen bin ich schlussendlich in Düsseldorf angekommen. Hier bot man mir einen Gastvertrag an.

Gastvisum oder Militärdienst. Wie läuft das denn bürokratisch ab?

Das war schwierig, denn ich brauchte zu jener Zeit einen neuen türkischen Pass, weil meiner abgelaufen war. Allerdings stand auch gleichzeitig der türkische Militärpflichtdienst. Um einen Gastvertrag zu bekommen, brauchte ich einen aktuellen Pass und für einen aktuellen Pass den absolvierten Militärdienst. Nun konnte ich dem Opernhaus kaum sagen „Hey, ich komme nach dem Militär wieder!“ Also habe ich ein wenig geschummelt. Gleichzeitig hatte es Deutschland geschafft, ein spezielles Künstlervisum, das für zwanzig Tage galt, zu arrangieren. So konnte ich dann meinen türkischen Pass im Konsulat in Düsseldorf verlängern, ohne direkt abgeführt und in Uniform gesteckt zu werden. Das war eine nervenaufreibende Zeit.

Hier gibt es keinen Platz für Starallüren

Wie unterscheidet sich die Arbeit hier und in Istanbul?

In der Türkei haben wir (fast) alle unsere Stars in den Bereichen Fußball, Fernsehen oder eben an der Oper. Das sind sehr gute Schauspieler:innen, sehr gute Fußballspieler:innen oder sehr gute Sänger:innen – aber wir haben diese Teamarbeit nicht. Sie können dort nur schwer gut zusammenarbeiten. Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Türk:innen so individuell und kreativ sind, dass sie nicht im Team funktionieren. In der Praxis bedeutet das, dass man gerne mal zickig oder unzuverlässig sein kann – es stört keinen. Dort gilt „Er ist ein Star- er darf das“. In Deutschland gibt es diese Art der Starallüren nicht, jedenfalls in meinem Bereich. Hier kannst du nicht daherkommen und sagen „I am a Star from Los Angeles“ und alle fallen gleich auf die Knie. Es gibt Abläufe und Regeln und entweder du passt dich an oder du bist raus. Hier ist es wichtig, dass die Orchesterprobe um 10.00 Uhr beginnt, der Inspizient ruft dich genau vier Minuten vor dem Auftritt und dann gehst du auf die Bühne.

Eine kurze Anekdote: Meine erste Produktion war Don Giovanni im Mai 2005. Während einer Orchesterprobe, die pünktlich um 10.00 Uhr begann, mussten wir einige Stellen wiederholen, weswegen es nicht die Zeit gab, das ganze Stück zu proben, da die Probe um 12.30 Uhr enden sollte. Don Giovanni hat eine Arie, die Champagnerarie, eine ganz bekannte, diese dauert 1.20 Minute und davor gibt es noch einen kleinen Vorpart, welchen ich gesungen habe. Als ich gerade für diese bedeutende Arie ausholen wollte, bemerkte ich plötzlich, dass das gesamte Orchester ihre Musikinstrumente einpackte. Ich stand verdutzt auf der Bühne und brachte gerade mal ein fragendes „Sorry?“ raus, als einer vom Orchester meinte „Es ist 12.30 – Mittagspause“. Dann folgte eine zweiminütige Diskussion, warum wir genau jetzt die Probe beenden müssen. Das blieb hängen.

Welche Rollen singst du?

Wenn die Bassbaritonstimme jung ist, spielt man meist einen Bösewicht, den zweiten Liebhaber oder einen Buffo (den Lustigen). Wenn du älter bist, geht es dann über in die Rollen des Königs, Vaters oder Priesters. Das sind nun meine Rollen. Seit zwei, drei Jahren singe ich mehr Väter, unser Ensemble wird immer jünger, da zähle ich wohl schon zu den Älteren. Die Bassstimme ist aber grundsätzlich die tiefe Stimme. Höhere Stimmen sind die Tenöre, eher jüngere Stimmen, die Liebhaber-Stimmen, zum Beispiel Romeo. Die männlichen Hauptfiguren. Bassisten sind selten Hauptfiguren, sie sind eher die Bösewichte, Väter oder eben der zweite Kerl. Man mag es kaum glauben, aber ein Bösewicht ist einfacher zu singen und zu spielen, zum Beispiel die Figur des Mephisto. Die Menschen haben oft eine genaue Vorstellung, wie ein Bösewicht zu sein hat, wobei die Assoziation auch kulturelle Unterschiede haben kann. Es ist ein großer Unterschied, ob ein schwedischer Künstler einen Bösewicht spielt oder ein türkischer oder italienischer. Ich habe die Interpretation der Don-Giovanni-Rolle sicher schon 20 bis 30 Mal von verschiedenen Künstlern gesehen und ich muss einfach sagen, die Südländer stechen immer wieder mit ihrem Temperament hervor.

Hier ist alles so geordnet- manchmal stört mich das sogar

 Wolltest du nach Deutschland?

Nein, nie, ich wollte immer nach Italien. Leckeres Essen, schön leben und ein wenig singen. Das sieht in der Praxis natürlich anders aus. In Deutschland habe ich mich als allererstes über das Ordnungssystem gefreut. Meine erste Spielzeit in Deutschland war schön, man musste sich keine Sorgen machen, ob und wer zur Probe kommt. In der Türkei muss man fast alles selbst organisieren. Die Menschen aus der Kantine zur Probe zerren zum Beispiel. Das war wirklich eine Erleichterung. Aber jetzt finde ich es fast schon langweilig. Es stört mich fast schon, dass alles so gut läuft.

Türkische Einflüsse spielten schon immer eine Rolle in der Opernkultur, so gilt Mozarts Entführung aus dem Serail als Türkenoper – Wo kommt dieser Begriff her?

In der Zeit haben viele Komponisten über den Orient geschrieben, das war damals ein Trend in der Opernkultur. Es gab einen großen Einfluss. Der Orient war damals eine mystische Welt, die als spannend galt. Bis zu dem Stück von Mozart „Die Entführung aus dem Serail“ bestand das klassische Orchester größtenteils aus Streich- und Blasinstrumenten. Mozart hatte eine große Affinität zu türkischen Klängen, so versah er die Ouvertüre zum ersten Mal in der Operngeschichte mit Beckentrommeln, Piccoloflöten und Triangeln. Das ist typisch für den Orient, speziell für die Janitscharen. Auch die prunkvollen Kostüme des Osmanischen Reichs fanden sich bei dieser Inszenierung wieder. Und warum man das machte? Ich denke, zu jener Zeit hatte Deutschland künstlerisch schon sehr viel erreicht, brauchten daher neue Einflüsse.

Konntest du deinen Vater eigentlich noch nachträglich von deinem Können überzeugen?

Er ist mehr als stolz auf mich. Aber ja, damals sah es ganz anders aus. Ich weiß noch, wie er im Wohnzimmer saß und die Liste mit den Wunschstudiengängen, die eigentlich jeder Abiturient selbst ausfüllen muss, in Schönschrift für mich ausfüllte. Darauf stand Aqua Engineering, Rechtswissenschaften, eben alles, was eine sorglose Zukunft bringt. Heute weiß ich, dass er mich nur schützen wollte. Man muss dazu sagen, dass damals ca. 500 Sänger für eine Arie vorsangen. Es war kaum vorstellbar, dass man als Künstler in der Türkei ein annähernd gutes Leben führen konnte.

 In der Kunstszene steht der Mensch im Vordergrund

Wie bunt sind deine Arbeitskollegen?

Das Ensemble ist superbunt gemischt! Wir haben Costa Ricaner, Finnen, Engländer, Usbeken und ganz wichtig: Wir haben italienische Dirigent:innen. Untereinander sprechen wir meist Englisch, damit alle alles verstehen. Manchmal ist es kaum vorstellbar, dass wir so zusammen auf der Bühne stehen, nach den Vorstellungen noch ein Bier trinken gehen, während die Welt da draußen über Diskriminierung und Rassismus spricht. In der Kunstszene steht der Mensch im Vordergrund. In unserem Haus stehen teilweise 30 verschiedene Nationalitäten gleichzeitig auf der Bühne. Das hat noch niemand hinterfragt.

Text und Foto: Melissa Christov-Tanrıverdi

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