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Sprache & Literatur

Die Erklärerin

Ein Portrait: Kübra Gümüşay

Mit „Sprache und Sein“ schrieb Kübra Gümüşay eines der meistbeachteten Sachbücher des vergangenen Jahres. Sie war überall: in Podcasts, Talkshows, Zeitungen. Manche bewundern sie für ihre Botschaften, andere feinden sie an. 

„Jetzt stehen die Gedanken im Zentrum, nicht die Person“, sagt Kübra Gümüşay. Sie lächelt bei diesem Satz und meint ihr Buch, „Sprache und Sein“. Nachdem das Werk – es ist ihr erstes – im vergangenen Januar erschienen ist, stand es monatelang auf der Bestsellerliste des SPIEGEL und wurde eines der erfolgreichsten Sachbücher in 2020.

Gümüşay entwirrt in „Sprache und Sein“ die Debatten unserer Zeit, liefert eine wache Diagnose der Gegenwart. Sie zeigt, wie groß die Sehnsucht nach einer Sprache ist, die unvorbelastet von Prägung und Ideologie funktioniert. Es ist schwer, Dinge zu verstehen, für die man die Wörter nicht kennt. Aber es gibt immer die Gelegenheit, diese Wörter zu lernen. So ist „Sprache und Sein“ auch ein demütiges Werk. „Ich wollte ein Buch schreiben, das die Köpfe der Menschen öffnet. Dass ich mit Buchstaben so viel transportieren kann, das hätte ich nicht geglaubt“, sagt Gümüşay.

„Ich wollte ein Buch schreiben, das die Köpfe der Menschen öffnet. Dass ich mit Buchstaben so viel transportieren kann, das hätte ich nicht geglaubt.“

Die Idee zu „Sprache und Sein“ hatte Gümüşay schon vor fünf Jahren. Als ihr der Verlag sagte, dass das Buch erst 2020 erscheinen würde, dachte sie, dass die Themen Sprache und Identität dann längst an Bedeutung verloren hätten. DER SPIEGEL schrieb über „Sprache und Sein“ im März: „Seit Ulrich Becks ‚Risikogesellschaft‘, das in den Wochen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erschien, gab es kein deutsches Sachbuch mehr, dessen Relevanz so sehr von der Aktualität bestätigt worden wäre“.

 

Wegen Corona konnte Gümüşay nicht, wie geplant, auf Lesetour gehen. Das sei schade, sagt sie, schließlich lebe ihr Werk vom wachen Austausch mit dem Menschen – aber es habe doch auch etwas Gutes. So könnten sich die Leute auf die Inhalte des Buches konzentrieren. Und weniger auf sie, Gümüşay, selbst, die seit jeher im Fokus steht. Das Deutschlandradio bezeichnete sie einmal als eine der prägendsten Köpfe des deutschen Islam. „Wenn ich bei Rot über die Ampel gehe, breche nicht nur ich die Verkehrsregeln, sondern alle Musliminnen in Deutschland“, sagte Gümüşay einmal an anderer Stelle über sich. 

„Wenn ich bei Rot über die Ampel gehe, breche nicht nur ich die Verkehrsregeln, sondern alle Musliminnen in Deutschland.“

Kübra Gümüşay, 32, ist Journalistin, Aktivistin und Schriftstellerin. Sie wurde bekannt mit ihrem Blog „Ein Fremdwörterbuch“ und ihrer Kolumne „Das Tuch“, die sie zwischen 2010 und 2013 in der taz veröffentlichte. Gümüşay beschrieb darin ihren Alltag als gläubige Muslima. Die Zeit ihrer Kolumne fiel auch in die Zeit von Thilo Sarrazin und „Deutschland schafft sich ab“. Sarrazin schrieb in seinem Buch Sätze wie: „Wer Türke oder Araber bleiben will und dies auch für seine Kinder möchte, der ist in seinem Herkunftsland besser aufgehoben. Und wer vor allem an den Segnungen des deutschen Sozialstaats interessiert ist, der ist bei uns schon gar nicht willkommen.“ Sein Werk wurde eines der erfolgreichsten Sachbücher der Bundesrepublik. Bis heute wurde „Deutschland schafft sich ab“ mehr als 1,5 Millionen Mal verkauft. How dare you?, mag sich Gümüşay damals gedacht haben. Und hatte eine Mission.

2013 initiierte sie die Kampagne #schauhin gegen Rassismus in Deutschland. Im Anschluss an die Kölner Silvesternacht setzte sie sich unter dem Twitter-Hashtag #ausnahmslos mit 21 anderen Feministinnen dagegen ein, sexualisierte Gewalt allein als Problem des Islam darzustellen. Das Magazin „Edition F“ zählte Gümüşay 2016 zu den „25 Frauen, die unsere Welt besser machen“. Das Forbes-Magazin rankte sie 2018 unter den „30 under 30 Europe“ in der Kategorie „Media & Marketing“. Gümüşay bekam eine Bühne für ihre Botschaften. In ihrem TED-Talk organised loved bezeichnete sie sich selbst einmal als Intellectual cleaning lady, intellektuelle Putzfrau. Sie, die in London studierte, war die geworden, die Deutschland das Kopftuch erklärte, Themen wie Integration, Migration und Islam auf die Agenda rief: in Tweets, Talkshows und Texten. Immer da, omnipräsent, die Frau mit dem Hijab.

 

Gümüşay ist in Hamburg geboren und wächst im Stadtteil Altona auf. Hier wohnt sie auch heute wieder mit ihrem Mann Ali, einem Wissenschaftler, und ihrem kleinen Sohn. Eigentlich wollten wir uns für dieses Porträt in einem Café direkt an der Bahnstation Altona treffen. Corona machte eine Videotelefonat daraus.

„Ich habe in dieser Zeit gelernt, wie viel Spielraum man als engagierter Mensch haben kann. Du entwickelst sehr schnell ein Gefühl dafür, dass Dinge veränderlich sind.“

Gümüşays Familie ist seit fast fünfzig Jahren in Deutschland. Ihr Großvater kam Anfang der Siebziger als Gastarbeiter aus Ankara und arbeitete als Schlosser am Hamburger Hafen. Gümüşay hat mehrere Geschwister. In ihrem Wohnhaus lebten damals ausschließlich türkische Gastarbeiterfamilien, es ist ein Haus der offenen Türen. Als Anfang der Neunzigerjahre die Gentrifizierung des Bezirks beginnt, zieht die Familie in die Plattenbausiedlung Mümmelmannsberg in den Hamburger Osten. 1994 kommt Gümüşay hier in die Schule. 
Die Schulzeit habe sie geprägt, sagt Gümüşay. Mit 15 wurde sie Schülersprecherin, sprach in der SchülerInnenkammer und machte später Schülervertretung auf europäischer Ebene, ebenso war sie Chefredakteurin des Hamburger Jugendmagazins Freihafen. „Ich habe in dieser Zeit gelernt, wie viel Spielraum man als engagierter Mensch haben kann“, sagt Gümüşay „du entwickelst sehr schnell ein Gefühl dafür, dass Dinge veränderlich sind“. Zu wissen, dass Dinge anders werden können, „das war für mich immer der Antrieb, sie besser zu machen“, sagt Gümüşay. Ihr großes Vorbild sei ihre Mutter, weil sie als Frau mit Kopftuch den gesellschaftlichen Hindernissen und Stigmatisierungen in der Türkei und in Deutschland trotzte und sich stets weitergebildet habe, sagt Gümüşay einmal gegenüber der Zeit. „Sie hat mir gezeigt, dass eine Frau religiös und selbstbewusst sein kann. Dass sie Vorträge halten, Führung übernehmen, Visionen haben und komplex sein kann.“

Sich mit Menschen auszutauschen, sagt Gümüşay, bringe viel Wärme in ihr Leben. „Austausch bedeutet für mich immer, mit wachen Augen auf die Welt zu schauen. Ob ein Mensch neugierig ist, zugewandt, ob er ein waches Herz hat, das erkenne ich nach kurzer Zeit.“
Wer so öffentlich, so wirksam ist, das merkte Gümüşay schnell, der bekommt Gegenwind. Sie wird auch kritisch gesehen. Alles, was sie macht, wird durch ihre enorme Öffentlichkeit, zusätzlich kritisch beäugt. Zu den Anschuldigungen, gegen die sie sich seit Jahren erwehren muss, hat sie in einem ausführlichen FAQ Stellung bezogen. Bis heute bekommt sie in den sozialen Medien dennoch Nachrichten, die Kritik an ihr üben und ihr Vorwürfe machen – obwohl es mit den Werten, die sie als Mensch, durch ihre Vorträge und Werke vermitteln möchte, nichts zu tun habe, wie sie sagt. Wie Kübra Gümüşay damit umgeht? Sie arbeitet weiter, gerade an ihrem nächsten Buch.

Text: Florian Gontek
Fotografie: Paula Winkler

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