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Gesellschaft & Geschichten

​​Die Intersektion zwischen Klassismus und Rassismus

Gastarbeiter*innen und migrantische Selbstorganisation

Nach dem ersten Anwerbeabkommen im Jahr 1955 zwischen Deutschland und Italien, folgte 1961 die Unterzeichnung des Anwerbeabkommens mit der Türkei, das türkischen Arbeiter*innen ermöglichte in Deutschland in der Industrie zu arbeiten. Bis zum Jahr 1973, das Jahr des Anwerbestopps, kamen rund 870.000 türkische Arbeiter*innen nach Deutschland, teils mit Familie, teils ohne.

Die “Gastarbeiter*innen” wurden, wie die Betitelung schon zu verstehen gibt, als Gäste wahrgenommen, als Arbeiter*innen mit befristeten Arbeitsverträgen. Jedoch ist es fragwürdig inwiefern die Gäste, auch wirklich als Gäste behandelt wurden. Die Unterbringung erfolgte in maroden Wohnungen, gepaart mit Alltagsrassismen und struktureller Diskriminierung und die Arbeiter*innenschaft aus dem Ausland wurde in der Industrie harten körperlichen Tätigkeiten ausgesetzt.

Film: Gleis 11, Çağdaş Eren Yüksel, Erscheinungsjahr: 2021

Unter Klassismus verstehen wir die Diskriminierung und Unterdrückung von Menschen, die einer sozialen Klasse angehören, welche ebenso sozial konstruiert wurde auf Grundlage einer ökonomischen Gesellschaft. Die jeweiligen Klassen sind mit Stigmen verbunden, die zur Folge haben, bestimmte Klassen zu privilegieren und andere nicht.

Rassismus lässt sich nach Stuart Hall und Robert Miles, zwei sehr bekannte britische Soziologen, als ein dialektischer Prozess verstehen. Das soll heißen, dass das Verständnis des Selbst aufgewertet wird durch die Abwertung eines „Anderen“.

Antifa Gençlik

In Deutschland machte sich die Berliner Gruppe Antifa Gençlik mit dieser Intersektion schon früh vertraut. Die Antifa Gençlik formierte sich Ende der 80er-Jahre als migrantische antifaschistische, antirassistische und antisexistische politische Gruppe und bemerkte früh das Nazi-Problem Deutschlands, besonders in den Bezirken Berlins. Auch die rassistischen Umgangsformen mit den „Gastarbeiter*innen“ seitens der deutschen Regierung und der deutschen Arbeiter*innen waren Inhalte ihrer Arbeit.

Die Besonderheit an der Antifa

Gençlik ist die Politisierung von apolitischen Menschen, die sich dazu bewegten, sich auch mit den Ungleichheiten in Berlin auseinanderzusetzen und aktiv zu werden. In ihren Flugblättern stellten die Antifa Gençlik klar, wie Rassismus und Klassismus miteinander zusammenhängen. So bedarf es in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem des Rassismus, um die Teilung der Arbeiter*innenklasse zu begünstigen. Somit wurden die „Gastarbeiter*innen“ nicht nur rassifiziert, sondern auch klassifiziert.

Stahlarbeiter: Henning Christoph

Den „Gastarbeiter*innen“ überließ man beispielsweise überteuerte Wohnungen in schlechten bis menschenunwürdigen Zuständen, Sammelunterkünfte auf engem Raum und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, geprägt von langen Arbeitstagen und schwerer körperlicher Arbeit. In solchen Fällen erscheinen Gewerkschaften als sinnvolle Anlaufstelle, da diese sich in der Idee gründeten als interessenvertretung für alle Arbeiter*innen einzustehen. Jedoch galt diese Aufnahmebereitschaft für die “Gastarbeiter*innen” eher weniger. Aufgrund rassistischer Vorurteile begegneten diesen ihnen mit Skepsis und Unmut und schlossen sie somit von der gewerkschaftlichen Organisation aus.

„Wilde Streiks“

In den sogenannten „wilden Streiks“ wurden diese Probleme offensichtlich und offen auf der Straße ausgetragen. Eines der bekanntesten „wilden Streiks“ spielte sich bei der Firma Ford 1973 in Köln ab, an denen sich die deutschen Arbeiter*innen nicht beteiligten und sich somit nicht mit den „Gastarbeiter*innen“ solidarisierten. Der Unmut und die Wut entstanden durch die Entlassung von 300 „Gastarbeiter*innen“, die zu spät aus ihrem Urlaub zurückkehrten. Dabei wurde allerdings nicht berücksichtigt, dass die Verspätungen mit der langen Reise in die Türkei zusammenhingen, die oft mit dem Auto unternommen wurden und so nur schwer zeitlich planbar waren. In den vorherigen Jahren war es zudem immer möglich gewesen, die Verspätungen mit Zusatzschichten nachzuholen. Somit erschien es überraschend, als Konsequenz die “Gastarbeiter*innen” direkt aus ihren Beschäftigungen zu entlassen und der finanziellen Not auszusetzen.

Stahlarbeiter und auf dem Weg in die Heimat: Henning Christoph

Die Ford-Aufstände thematisierten nicht nur diese ungerechtfertigte schnelle Reaktion seitens der deutschen Arbeitgeber*innen, sondern auch die schlechten Arbeitsbedingungen, wie die Erhöhung der Fließbandgeschwindigkeit in Bezug auf eine weiterhin geltende niedrige Entlohnung.

Festzuhalten ist also, dass die Lebensrealität der „Gastarbeiter*innen“ gezeichnet war von unfairen Arbeitsbedingungen in der Fabrik, einem Fremdheitsgefühl im Inneren und Rassismus auf der Straße.

Die Antifa Gençlik löste sich 1994 auf, nachdem sie eines Mordes beschuldigt wurde sowie innerpolitischen Konflikten. Dennoch ist und bleibt rassistische Diskriminierung und Gewalt für viele Migrant*innen als auch der Nachfolgegenerationen der „Gastarbeiter*innen“ Realität. Rassistische Anschläge wie in Mölln, Solingen oder Rostock sind nur drei von vielen weiteren Beispielen, die zeigen, wie das Leben migrantisierter und rassifizierter Menschen von rassistischer Gewalt tagtäglich bedroht ist.

Die Antifa Gençlik ist bis heute für viele, gerade politisch-aktive, migrantisierte und rassifizierte Menschen ein Begriff, was nicht nur an ihrer Einzigartigkeit in der Politisierung von apolitischen Menschen liegt, sondern auch, dass die Gruppe eine der ersten migrantischen, antifaschistischen Selbstorganisationen war. Als Vorbild gelten sie bis heute bundesweit in mehreren Städten für migrantische Selbstorganisationen und Neugründungen von solchen.

Text: Ceyda Cil

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