Das Zilan-Massaker (kurd: Komkujiya Zîlan) ist ein von der türkischen Regierung im Juli 1930 ausgeführtes Massaker an den Kurd*innen während der Ararat-Aufstände. Die massenhafte Ermordung von Kurd*innen fand in der Zilanschlucht in der Provinz Van statt. Während die türkische Tageszeitung Cumhuriyet die Zahl der kurdischen Todesopfer auf 15.000 Kurd*innen datiert, gingen Teilnehmende am Ararataufstand und zeitgenössische Schriftsteller*innen von mindestens 47.000 bis zu 55.000 Todesopfern aus.
Historische Hintergründe des Zilan-Massakers:
Zwei Jahre nach der Gründung der Türkischen Republik begann im Jahr 1925 der erste größere kurdische Aufstand, der als Reaktion auf die radikale Umgestaltung des politischen Systems verstanden werden kann. Die neu gegründete Nation negierte die multiethnisch und multireligiös geprägte Zusammensetzung der Bevölkerung und handelte im Sinne der türkischen Nation. Dieser historische Ausgangspunkt führte zu staatlicher Verleugnung kurdischer Existenzen, Entzug politischer Autonomie und Entrechtung von nichttürkischen Identitäten. Zuvor haben Kurd*innen, gemeinsam mit Armenier*innen, im Rahmen der Ararat-Aufstände gegen die bevorstehende Türkisierungspolitik und Assimilation Widerstand geleistet, weil sie ihre Identitäten samt Sprache, Kultur und Tradition aufrechterhalten wollten und die Kurd*innen ein souveränes Kurdistan forderten. Alle kurdischen Autonomiebestrebungen im Rahmen der Ararat-Aufstände von 1926 bis 1930 wurden vom türkischen Staat niedergeschlagen. Bis heute ist nicht ganz klar, wie viele Kurd*innen umgebracht wurden. Nach Angaben von Zeitzeug*innen, Teilnehmenden und mündlichen Überlieferungen wurden schätzungsweise 47.000 bis 55.000 Kurd*innen systematisch ermordet.
Wesentlicher Auslöser des Massakers
Die in den 1920er Jahren relativ junge türkische Verfassung beinhaltete eine festgeschriebene Staatsdoktrin, gegen die sich insbesondere Kurd*innen auflehnten. Die Mobilisierung von kurdischem Widerstand gegen eine bevorstehende Türkisierungspolitik galt für die damalige türkische Regierung als Anlass, am 29. Juni 1925 den kurdisch-sunnitischen Führer Şêx Seîdê Pîran (Scheich Said) gemeinsam mit seinen Gefährten hinzurichten. Die Hinrichtung eines kurdischen Systemkritikers diente dem Zweck, die Kurd*innen zu demoralisieren und ihre Mobilisierung zur Gegenwehr zu schwächen. Denn die Sorge war zu groß, dass mit seiner Führungskraft der Wunsch nach kurdischer Autonomie verwirklicht werden könnte.
Vernichtung kurdischen Lebens abseits der Ararat-Aufstände
Mustafa Kemal Atatürk und Ismet Inönü planten am 24. Februar 1925 in einer gemeinsamen Zusammenkunft ein radikaleres Vorgehen gegen die „Aufständischen“, durch das die Rebell*innen vollständig vernichtet werden sollten. Der kurdische Zeitzeuge Feyzullah Koç erzählte, dass türkische Truppen im Jahr 1925 die Dörfer Karaman und Bahçacık angriffen und dabei 70 Dorfbewohner*innen töteten, obwohl die beiden Dörfer seinen Angaben nach weder an den Aufständen beteiligt waren noch sich zur Wehr gesetzt haben. Diese willkürliche Gewaltanwendung und Vernichtungspolitik legen nahe, dass staatliche Gewaltmaßnahmen sich nicht gegen vermeintliche Rebellen*innen und Aufständische richteten, sondern die mehrheitlich kurdisch geprägte Bevölkerung auszulöschen versuchten.
Dorfzerstörungen nach der sogenannten „Säuberungsaktion“
Der von der türkischen Regierung angeordnete Massenmord im Zilan-Tal wurde von staatlicher Seite als „Säuberungsaktion“ bezeichnet (türk: Temizlik). Nach dem Massaker von Zilan wurden anschließend 60 Dörfer niedergebrannt, laut dem Berliner Tageblatt zerstörten türkische Soldaten in der Umgebung von Zilan rund 220 Dörfer.
Staatlich angeordnete Massakrierung von Aufständischen
Der Ararat-Aufstand
Der Ararat-Aufstand symbolisiert den von den kurdischen Stammesverbänden und armenischen Aufständischen geführte Widerstand im Gebiet des Ararats gegen die bevorstehende Zwangstürkisierung und Assimilationspolitik der jungen türkischen Republik. Der erste Aufstand lässt sich auf den 16. Mai 1926 zurückführen, als türkische Soldaten und kurdische Stammesverbände in bewaffnete Konflikte gerieten. Am 13. Juli 1930 wurde im Zîlan-Tal der letzte von Kurd*innen geführte Ararat-Aufstand von türkischen Truppen niedergeschlagen. Die Überlebenden und Zeitzeug*innen sprechen von grausamen Ermordungen.
Kurdische Widerstandskämpfer:
Staatliche und mediale Reaktionen auf das Zilan-Massaker und den Ararat-Aufstand
Verschiedene Akteure aus der Medienlandschaft und Politik äußerten sich zu den Ereignissen während der Ararat-Aufstände und dem Zilan-Massaker, besonders die Tageszeitung Cumhuriyet. Kurdische Menschen wurden mit vielen Hassbegriffen beschimpft.
Nur ein paar Jahre später (1937/38) folgte der Völkermord an den Alevit*innen und Kurd*innen in Dersim mit schätzungsweise 70-80.000 Todesopfern.
Erklärung des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Ismet Inönü:
Am 31. August nahm der türkische Ministerpräsident Ismet Inönü Stellung zu dem Zilan-Massaker, indem er die türkische Verfassung in deren juristischer Aussage, es gäbe überhaupt keine kurdischen Menschen, unterstützt.
Diese Negierung von kurdischen Identitäten war konstituierend, um die Assimilationsziele durchsetzen und eine vermeintliche türkische Nation herstellen zu können. Gleichzeitig wurden Kurd*innen systematisch umgebracht, vertrieben, deportiert und ihrer kulturellen bzw. ethnischen Substanz beraubt, um gerade diese Vorstellung umsetzen zu können. Kurd*innen wurden –und werden- in ihrer Identität staatlich verleugnet.
Fehlende Aufarbeitung und Schuldverdrängung
1992 wurde in Erdis der Koçköprü-Staudamm eröffnet. Durch die Flutung mancher Dörfer wurden zahlreiche Massengräber unter Wasser gesetzt. Durch die Wiederaufnahme von Wasserkraftanlagen sind alle Massengräber und Überreste tausender Menschen, die 1930 beim Zilan-Massaker ermordet wurden, in Stauseen verschwunden.
Im Jahr 2009 wurden die Journalisten der Nachrichtenagentur Dicle Haber Ajansi, Ercan Oksuz und Oktay Candemir, zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt, weil Sie zuvor Interviews mit Zeitzeug*innen geführt haben.
Kommentar
Zilan ist eine tiefe Wunde im kollektiven Gedächtnis der kurdischen Gesellschaft. Auch wenn die jüngere Generation des kurdischen Volkes kaum davon gehört hat, wissen unsere Ältesten ganz genau, welche Brutalität und Grausamkeit unsere Vorfahren erleben mussten. Zilan steht zwar symbolisch für Massaker und systematische Tötung von kurdischen Menschen. Der Ararat-Aufstand jedoch symbolisiert den kurdischen sowie armenischen Widerstand gegen Türkisierung und Assimilation. Für das kurdische Selbstverständnis ist es von zentraler Bedeutung, dass der kurdische Widerstand in der Historie berücksichtigt und anerkannt wird. Sie waren nicht wehrlos, sondern lehnten sich gegen Ungerechtigkeit, Assimilation und Vernichtung auf. Bis heute dürfen wir in der Öffentlichkeit nicht trauern, wütend sein oder uns in irgendeiner Form daran erinnern. Denn das Massaker wurde jahrzehntelang totgeschwiegen. Aufarbeitungsbestreben sind kriminalisiert und jegliche Form der Erinnerung wird verweigert. Genau deshalb ist es umso wichtiger, dass die Kurd:innen in der Diaspora, mit ihren Zugängen zur Geschichte und Literatur, die Ermordeten nicht in Vergessenheit geraten lassen. Die bloße Erinnerung schenkt den Ermordeten Sichtbarkeit, Anerkennung und Liebe. Erinnerung erlaubt unsere Trauer und Gefühlte zu teilen und in Worte zu fassen. Wir haben so wenig Daten zur Verfügung: Doch wir wissen, dass unseren Vorfahren aufgrund ihres Kurdischseins Unrecht angetan wurde.
Wir vergessen Zilan nicht – Em Zilan ji bir nakin!