Einst sagte der amerikanische Bürgerrechtler und Menschenrechtsaktivist Malcolm X, dass Bildung der Pass für die Zukunft sei, denn das Morgen gehört denen, die sich heute darauf vorbereiten. Mit dem Blick auf die Zahlen, die die aktuellen Studien zum Thema „Bildungsgerechtigkeit“ und die damit verbundene Chancengleichheit in Deutschland hergeben, sieht insbesondere das Morgen und die Zukunft von Menschen mit Einwanderungsgeschichte bzw. PoC ziemlich düster aus.
Ihr sozialer Aufstieg in Deutschland ist nach wie vor vom sozioökonomischen Status, ihrer ethnischen Herkunft und dem Bildungsgrad des Elternhauses abhängig. Dieser Faktor prägt den persönlichen Entwicklungs- und Erwerbsverlauf der meistens Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Erfolgsgeschichten wie die jüngst von Özlem Türeci, Uğur Şahin, Cem Özdemir, Düzen Tekkal oder auch Aminata Touré sind gesamtgesellschaftlich betrachtet eher Ausnahmeerscheinungen.
Wenn deine soziale Herkunft zur Barriere wird
1960 setzte sich der französische Soziologe Pierre Bourdieu mit dem Thema „Chancengleichheit“ wissenschaftlich auseinander und versuchte dessen weitreichende Dimensionen mit dem Habituskonzept empirisch zu untersuchen. Menschen, die nicht die gleichen Rahmenbedingungen und Ausgangslagen für einen sozioökonomischen Aufstieg und somit Zugang zu Bildung haben, sind mit gewissen Barrieren konfrontiert. Diese Barrieren können eine bestimmte Sprache sein (Beamten-, Amts- oder Behördendeutsch) oder nach Bourdieu sogar der Habitus. Unter „Habitus“ wird das gesamte Auftreten einer Person verstanden, d.h. sein Kleidungs-und Lebensstil, sein optisches Erscheinungsbild, seine Sprache sowie persönliche Vorlieben.
So schließen sich Menschen, die ähnliche Neigungen haben und in gleichen sozioökonomischen Verhältnissen aufgewachsen sind, zu einer Gruppe zusammen, da sie ihre habituellen Gemeinsamkeiten vereinen. Bourdieu spricht hier auch von habituellen Strukturen, die in bestimmten sozialen Klassen zu beobachten sind. Er stellte fest, dass gewisse Handlungen von Menschen einen klassenspezifischen Habitus-Charakter haben. Dadurch lassen sich Klassenunterschiede abzeichnen, die wiederum Barrieren in der sozialen Mobilität zur Folge haben.
Personen aus dem Bildungs- und Großbürgertum werden gesamtgesellschaftlich und im Berufsleben oft bevorzugt und sind weitaus weniger von struktureller Diskriminierung betroffen. Nach Bourdieu sind die Chancen für Menschen mit Migrationsgeschichte und PoC in eine Führungsposition aufzusteigen trotz gleicher Qualifikation ungleich verteilt.
Obwohl im Artikel 3 Absatz 3 des dt. Grundgesetzes eine Gleichbehandlung und Chancengleichheit aller Menschen in Deutschland festgeschrieben ist, wird das Diskriminierungsverbot nicht in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens eingehalten. So wird das Diskriminierungsverbot insbesondere bei den Stellenbesetzungen im öffentlichen Dienst nur auf das Verfahren mit Ausschreibung und auf den Ausschreibungstext selbst angewandt, jedoch nicht auf die Auswahl der Bewerber*innen. Dies führt aber dazu, dass in immer mehr Bereichen die Stellen mit Prestige ohne Ausschreibung vergeben werden und Arbeitgeber*innen weiterhin ohne rechtliche Konsequenzen benachteiligen können, da eine derartige Diskriminierung nicht unter das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz fällt.
Wenn der Zugang zu Bildung der einzige Schlüssel zu mehr Gerechtigkeit ist
Im Jahr 2001 kam es wegen den Ergebnissen der PISA-Studie in Deutschland zu einer politischen Debatte über Integration und Bildungsgerechtigkeit. Diese Studie bescheinigte Deutschland, dass es zunächst ein bundesweites Defizit aller Schüler*innen mit oder ohne Migrationshintergrund in den genannten Kompetenzbereichen gab und ein großer Förderbedarf bestand. Sie legte auch offen, dass die meisten Schüler*innen mit Leseschwächen aus Arbeiter- oder Migrantenfamilien kamen und ihre soziale Herkunft einen Einfluss auf die Schulleistungen hatte. Der Schock und Aufschrei der Bildungs- und Kultusminister*innen war groß, da man es einfach nicht wahrhaben wollte, dass die Integrationspolitik in Deutschland gescheitert war. Der damalige Bundespräsident Horst Köhler sprach zwar von einer „unentschuldbaren Ungerechtigkeit“, überlies jedoch die herausfordernde und ressourcenintensive Förderaufgabe den jeweiligen Bundesländern.
Wie Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit als Integrationserfolg gelingen kann
Wenn man sich die aktuellen Studienergebnisse zum Thema „Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit“ anschaut, haben die Absichtsbekundungen und mäßigen Bemühungen der Bundes- und Landesregierungen kaum einen signifikanten Beitrag zur Reduzierung der Bildungsbenachteiligung von Schüler*innen aus sozial schwachen Schichten und mit Migrationshintergrund geleistet. Die aktuellen Zahlen zum Förderbedarf sind alarmierend, da immer mehr Kinder und Jugendliche aus Familien mit Migrationshintergrund unter der Belastung von mindestens einer Risikolage (formal gering qualifizierte Eltern, niedriger sozioökonomischer Status) aufwachsen. Laut dem 9. Nationalen Bildungsbericht 2022 sind 48% der Kinder und 29% der Jugendlichen mit Migrationsgeschichte in Deutschland davon betroffen.
Wenn Integration durch eine erfolgreiche Bildungsteilhabe gelingen soll, muss es die Aufgabe von Politik und Schule sein, herkunftsbedingte soziale Benachteiligung zu kompensieren. Damit dies gelingen kann, sollten bundesweit alle „sozialen Brennpunktschulen“ besser ausgestattet werden, indem mehr und besser qualifizierte Lehrkräfte (insb. mit Migrationsgeschichte und PoC) eingestellt und ein höheres Budget für Bildungsausgaben bereitgestellt wird. Außerdem sollte es mehr Fortbildungsangebote für Schulen mit Ganztagsangeboten und zusätzliche Förderangebote für Schüler*innen mit Bildungsdefiziten geben. Aus diesem Grund muss die optimalste Ausstattung an die Schulen mit den Schüler*innen, die die schlechtesten herkunftsbedingten Bildungsressourcen mitbringen, eingefordert werden.
Es darf einfach nicht sein, dass einzelne Erfolgsbiografien von Personen mit sozial schwacher Herkunft und Migrationsgeschichte, als Paradebeispiel für eine gelungene Integration in Deutschland deklariert werden. Es wird dabei völlig ignoriert, dass diese medial bekannten Persönlichkeiten vielleicht relativ früh ihre Begabung und ihr intellektuelles sowie soziales Potenzial für sich entdeckt haben, oder sogar das Glück hatten, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort den richtigen Menschen begegnet zu sein, die sie persönlich und schulisch gefördert haben.
Deshalb sind ihre Erfolgsgeschichten noch lange nicht repräsentativ genug, um zu behaupten, dass es auch der Mehrheit der Menschen mit sozioökonomisch schwacher Herkunft und Migrationshintergrund gelingen kann, einen Bildungs- und Karriereaufstieg zu schaffen, nur weil es im Deutschen Grundgesetz steht. Das Recht auf Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit muss für alle gegeben sein. Erst dann können wir in Deutschland von einer „gelungenen Integration“ sprechen und als vollwertiges sowie anerkanntes Mitglied der Gesellschaft wirken.
Autorin: Dilek Kalin