Traditionelle Rollenbilder haben einen weitreichenden Einfluss auf viele Lebensabschnitte: Sei es der Kleidungsstil, die Aufgabenverteilung im Haushalt oder das Familienbild. Und spätestens, wenn es um die zukünftige Berufswahl geht, hören insbesondere Kinder aus Familien mit Migrationsbiografie Folgendes: „Mein Sohn, meine Tochter, du wirst Jura oder Medizin studieren!’’
Warum ist das so? Welche Gründe bringen diese bestimmten Berufswünsche hervor?
Vorab ist anzumerken, dass dieses Thema noch wenig empirisch erforscht ist. Speziell die Frage, wie und woran bemessen die Berufswahl in migrantischen Familien erfolgt, hat bis dato keine große Aufmerksamkeit genossen. Daher werden im Artikel eher allgemeine Erfahrungsberichte betrachtet, um den Wunsch, dass die eigenen Kinder einer bestimmten Berufsgruppe angehören, zu erklären.
Sozialer Status und Prestige spielen bei der Berufswahl eine übergeordnete Rolle: In einigen Kulturen werden Berufe wie Arzt*Ärztin oder Anwalt*Anwältin als angesehen und prestigeträchtig betrachtet. Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder in Berufen arbeiten, die ihnen gesellschaftliche Anerkennung und Respekt bringen. Der soziale Status und das Ansehen, die mit diesen Berufen verbunden werden, sollen den Kindern eine bessere soziale Position verschaffen. Es ist wahrscheinlich, dass auch die gesellschaftliche Funktion dieser Berufe (Ärzt*innen als „Heilende”, Anwält*innen als „Rechtschaffene“) hierbei erheblichen Einfluss auf die Auswahl der Berufe hat.
Bessere Berufschancen
Migrant*innen erster Generation werden in ihrer neuen Heimat möglicherweise mit sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert. Sie gehen davon aus, dass Berufe im medizinischen oder juristischen Bereich ihren Kindern bessere Chancen auf beruflichen Erfolg und finanzielle Stabilität bieten. Diese finanzielle Stabilität ist essentiell. Wer in unsicheren Verhältnissen aufwächst, in denen bspw. nicht immer klar ist, ob man sich noch Strom, Brot oder Kleidung leisten kann, wird einen höheren Fokus auf den gesellschaftlichen Aufstieg der Kinder legen. In Anbetracht der Tatsache, dass viele first generation Migrant*innen finanziell deutlich schwächer aufgestellt sind, wird hier eine Motivation deutlich.
Bildungschancen
In vielen Ländern der Welt ist Bildung keine Selbstverständlichkeit. Dementsprechend ist es nachvollziehbar, möglichst hoch im deutschen Bildungswesen aufsteigen zu wollen. Dabei liegen in Deutschland immer noch enorme Unterschiede in der Bildungsgerechtigkeit vor (je ärmer die Eltern, desto weniger wahrscheinlich ein Abitur). Doch ist ein guter Bildungsabschluss unabdingbar für einen guten Beruf und den damit verbundenen Vorteilen.
Letztendlich ist ein „guter” Beruf häufig auch ein Garant für Integration und Akzeptanz in der Mehrheitsgesellschaft. Diskussionen über Fachkräfteanwerbung zeigen dies deutlich: Je ausgebildeter eine Person ist, desto willkommener ist sie im jeweiligen Land. Die soziale Teilhabe ist mit steigendem Ansehen (und Gehalt) deutlich einfacher und kann dafür sorgen, dass Akzeptanz wahrscheinlicher ist.
Die „Zeit” schreibt im August 2019, dass „traditionelle Rollenbilder [..] unwichtiger [werden]”. Vielleicht ist es der Wandel der Zeit, der hier für Progress sorgt. Mit Denkansätzen in Richtung Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Work/Life-Balance, etc. werden in Zukunft stärkere Veränderungen erkennbar werden – und diese könnten auch das zähe Gerüst, in dem sich viele Migrant*innen bei der Berufswahl befinden, auflockern.
Text: Ahmet Bekisoglu
Quellen:
https://books.publisso.de/de/publisso_gold/publishing/books/overview/46/153
https://concernusa.org/news/how-does-education-affect-poverty/
https://www.fes.de/en/displacement-migration-integration/article-page-flight-migration-integration/integration-is-about-equality
https://www.globalcitizen.org/en/content/poverty-education-satistics-facts/
https://home-affairs.ec.europa.eu/policies/migration-and-asylum/legal-migration-and-integration/cooperation-economic-and-social-partners/employers-together-integration_en
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2528798/
https://planet-beruf.de/lehrkraefte-und-bo-coaches/berufswahl-unterricht/unterricht-mit-planet-berufde/unterrichtsidee-typisch-maedchen-typisch-jungs
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1544612320303299
Söhn, Janina, 2020. Why companies prefer applicants from non immigrant families: investigating access to vocational training among low qualified adolescents with an interlinked firm applicant survey, Empirical Research of Vocational Education and Training, 2020(4), S. 1-22.
https://www.zeit.de/arbeit/2019-08/berufswahl-ausbildungsberufe-jungen-maedchen-stereotype-rollenverteilung