Anadolu Rock aus Amsterdam

Das Interview mit der Altın Gün Sängerin Merve Daşdemir

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Es ist der 6. Dezember 2019. Wer hätte ahnen können, dass der Tag, der mit dem Gedenken an den heiligen Bischof von Myra und dem Verspeisen eines Fairtrade-Schoko-Nikolaus anfing, damit endete, dass auf dem Altın Gün-Konzert wild Halay (traditioneller Volkstanz) getanzt wird? Nun, die niederländisch-türkische Band aus Amsterdam machen anatolischen Psychedelic-Rock, der live extrem tanzbar ist. So, wie es auf einer türkischen Hochzeit üblich ist. Man tanzt, bis die Füße wehtun, vielleicht sogar, bis man tot umfällt.

Wir haben das Glück, vor dem restlos ausverkauften Konzert im interkulturellen Ambiente des Kulturbunkers in Köln Merve Daşdemir (Gesang) von Altın Gün zu treffen. Die 08/15-Einstiegsfrage, wie die Band denn zusammenkam, findet sie wie wir, übelst langweilig und bittet uns, in ihrem Namen ein paar Zeilen hinzuschmieren. Daher wird bei der ersten Frage eine von uns selbst konstruierte Antwort wiedergegeben – selbstverständlich mit Merves Einverständnis. Schließlich beginnen wir ein äußerst cooles und gelassenes Gespräch.

 

Liebe Merve, wie wurde Altın Gün gegründet und woher kommt der Name?

Mit der Reise nach Istanbul kam Jasper Verhulst (Bassist) mit dem türkischen Psychedelic Rock der 70er in Berührung. Dieses Erlebnis führte später zur Gründung der Band. So kam ihm die Idee und der Drang, diese Musikrichtung in die Gegenwart zu holen und neu zu interpretieren. Also suchte Jasper via Facebook nach zwei türkischen Musiker*innen und fand Erdinç Ecevit Yıldız (Saz, Keyboard, Gesang) und mich. Die Namensfindung haben wir auch ihm zu verdanken. Witzigerweise dankt er wiederum Google Translate, da er einfach die Wörter „gold day“ ins Türkische übersetzte und so auf den Bandnamen Altın Gün (dt. goldener Tag) kam.

Mit eurem zweiten Album „Gece“ wurdet Ihr für den Grammy nominiert. Habt Ihr das erwartet?

Verglichen mit Europa leben in den USA weitaus weniger Türk*innen und deshalb meinten einige auch, dass es dort schwieriger wäre, größere Konzerte zu geben. Warte mal…das war aber nicht die eigentliche Frage, oder?!

Nein, eigentlich nicht. Aber erzähl ruhig weiter.

Anfangs besuchten wenige Türk*innen unsere Konzerte. So waren es beispielsweise letztes Jahr in Deutschland nur ca. zehn Prozent. Erstaunlicherweise haben hier heute fünfzig Prozent unserer Besucher*innen türkische Wurzeln.

Gibt es denn einen Unterschied zwischen türkischen und nicht-türkischen Fans?

Die nicht-türkischen Fans haben weniger Vorurteile gegenüber unserer Musik. Die türkischen Fans wiederum verbinden mit unserer Musik die typische „türkische Hochzeitsmusik“ und sind deshalb etwas skeptischer. Wir beobachten aber auch, dass sich diese Haltung größtenteils geändert hat und finden das Zusammenkommen unterschiedlicher Gruppen wunderbar.

Die nicht-türkischen Fans haben weniger Vorurteile gegenüber unserer Musik.

Wodurch stieg die Begeisterung der Türk*innen für eure Musik?

So genau können wir das auch nicht erklären. Ich gehe davon aus, dass es Mundpropaganda war. Wir machen Musik, die viele aus ihrer Kindheit kennen. Es kommen sehr viele Amcas (dt. Onkel) und Teyzes (dt. Tante) zu unseren Konzerten. Vielleicht erzählen sie ihre Eindrücke weiter und sagen: „Hey, geht mal zum Altın Gün-Konzert, die spielen Halkalı Şeker (dt. Ring-Süßigkeit).” Wir haben auf jeden Fall ein sehr breit gefächertes Publikum.

„Hey, geht mal zum Altın Gün-Konzert, die spielen Halkalı Şeker.“

Wollen wir zurück zu den Grammys?

Ja, klar. Also, zuerst wurden wir von der Recording Academy gerufen. Sie meinten, dass wir in der vorläufigen Nominierungsliste stehen. Weißt du, in der vorläufigen Liste werden einhundertfünfzig Namen erwähnt. Unsere Reaktion war zunächst „Okay, cool“ und mehr auch nicht, denn wir haben uns dabei nicht viel gedacht. Aber dann haben wir es doch irgendwie in die endgültige Liste geschafft, was natürlich äußerst cool ist. Es geschah wie von Zauberhand. Mir bedeutet das sehr viel, weil somit auch meine türkischen Helden wie Neşet Ertaş, Aşık Veysel oder auch Barış Manço für den Grammy nominiert sind. Schau mal, ich habe jetzt schon Gänsehaut.

Mir bedeutet das sehr viel, weil somit auch meine türkischen Helden wie Neşet Ertaş, Aşık Veysel oder auch Barış Manço für den Grammy nominiert sind.

Erwartet ihr ein erfreuliches Ergebnis? 

Um ehrlich zu sein, erwarte ich nicht, dass wir gewinnen. Hast du die anderen nominierten Kandidat*innen gesehen? Da wir keine amerikanische Musikgruppe sind, fallen wir in die Kategorie World Music. Eine*r der Kandidat*innen ist beispielsweise der nigerianische Rapper Burna Boy. Dann schauen wir uns selbst als Rockmusiker*innen an und fragen: Was zur Hölle suchen wir eigentlich auf dieser Liste? 

So sehe ich das nicht. Ich denke schon, dass Ihr große Chancen habt.

Meinst du?

Du hast eben große Namen wie Neşet Ertaş, Aşık Veysel und Barış Manço erwähnt. Ihr spielt hauptsächlich Songs von diesen Künstlern oder zumindest solche, die in Verbindung mit diesen Interpreten gebracht werden. Habt oder spielt Ihr auch eigene Songs?

Auf unserem aktuellen Album „Gece“ gibt es den Song „Şoför Bey“, der innerhalb von fünfzehn Minuten durch Improvisation entstand. Das war eine einmalige Sache. Den Wunsch, eigene Kompositionen zu veröffentlichen, haben wir als Gruppe nicht unbedingt. Ich schreibe zwar meine eigenen Songs, aber die können wir nicht mit Altın Gün präsentieren, denn Altın Gün ist eine Konzeptgruppe. Das passt einfach nicht. Im kommenden Jahr plane ich deshalb, ein Soloprojekt mit meinen eigenen Kompositionen zu starten.

Welche*n Interpret*in performst du am liebsten?

Aşık Veysel und Neşet Ertaş! Die beiden sind für mich von großer Bedeutung.

Wenn du die Möglichkeit hättest mit einer Person, die noch am Leben ist, ein Duett zu singen, für wen würdest du dich entscheiden?

Die Entscheidung fällt mir schwer und ich will auch nicht, dass jemand danach beleidigt ist. Deshalb würde ich lieber einen Namen von den Verstorbenen nennen, okay?

Klar! Wer wäre es? 

Definitiv Neşet Ertaş!

Wie erfolgt die Songauswahl?

Erdinç, Jasper oder ich suchen die Songs aus. Zuerst machen wir Zuhause eine Demoaufnahme und schauen dann im Studio, ob es sich harmonisch anhört. Wenn es nicht der Fall ist, lassen wir das direkt sein und machen mit dem nächsten Song weiter.

Euer Debütalbum „On“ war mehr im „Folk-Stil“ und „Gece“ könnte man als „Disco-Stil“ bezeichnen. Habt Ihr euch schon für das neue Album auf einen bestimmten Musikstil festgelegt oder ein bestimmtes Konzept geplant?

Vor ein paar Tagen haben wir darüber geredet, dass wir demnächst so langsam mit der Arbeit am neuen Album anfangen könnten. Welcher Stil diesmal hervorstechen wird, wissen wir noch nicht. Wir überlegen aber die Aufnahmen anders vorzunehmen. Bisher waren es immer Live-Aufnahmen. Vielleicht machen wir diesmal von der Overdub-Technik Gebrauch. Also kann es gut sein, dass wir für das dritte Album digitale Aufnahmen vornehmen und keine analogen, wie wir es bis jetzt gemacht haben

Welche Interpret*innen hörst du gerne?  

Die Musik, die ich eigentlich höre, ist eher slow. Jessica Pratt, Wise Blood oder Connan Mockasin höre ich zum Beispiel sehr gerne.

Gab es auf euren Konzerten peinliche oder witzige Momente?

Ja, manchmal schreiben unsere Fans ihre Songwünsche auf Servietten und reichen uns diese.

Waren das vielleicht türkische Fans?

Ja, absolut! Wir finden es auch total witzig, wenn nicht-türkische Fans uns Sprüche wie „çok güzel” (dt. sehr schön), „seni seviyorum” (dt. ich liebe dich) oder „maşallah” (wörtlich übersetzt „wie Gott will“) zurufen.

Willst du den Fans noch was mitteilen? 

Besucht weiterhin unsere Konzerte! Lasst uns zusammen die Musik genießen und tanzen! Gelin işte ya! (dt. Kommt einfach!)

Interview: Fatima Zohra Remli & Berivan Kaya
Text: Berivan Kaya
Fotografie: Anıl Kenet

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