Es ist ein Dienstag. Nicht nur das Wetter in Istanbul heizt sich langsam auf. Es ist ein Dienstag im Mai. Der Dienstag am 28. Mai 2013. Die Menschen versammeln sich im Herzen Istanbuls, am Taksim-Platz in Beyoğlu. Es sind Student*innen, Mütter, junge Söhne, Arbeiter*innen, queere Personen, ältere Menschen aus der Nachbarschaft, religiöse und unreligiöse Menschen. Sie alle stehen für die gleiche Sache.
Was ist der Gezi-Park?
Der Gezi-Park ist seit den 1940er fester Bestandteil des Lebens vieler Einwohner*innen in Istanbul. Er befindet sich unweit des berühmten Taksim-Platzes im Stadtteil Beyoğlu auf der europäischen Seite.
Er ist ein Erholungsgebiet. Ein Stück Grün im grauen Betonwald der Stadt. Der Park ist bekannt für seine große Vielfalt an Bäumen und Pflanzen.
Im Jahr 2013 wurde der Gezi-Park zum Symbol. Ein Symbol für Repressionen, Unterdrückung, Gewalt. Aber auch ein Symbol für Widerstand, für Trauer, für Wut, für Hoffnungen auf ein anderes Leben, für Zusammenhalt.
Was ist passiert am 28. Mai 2013?
Zunächst versammelten sich die Menschen im Gezi-Park, um friedlich zu demonstrieren. Demonstrieren gegen die geplante Umgestaltung des Gezi-Parks zu einem Einkaufszentrum. Die Demonstrant*innen waren besorgt über den Verlust eines der letzten grünen öffentlichen Räume in der Stadt und kritisierten die autoritäre Politik der türkischen Regierung. Die Reaktion der Regierung und der Polizei auf die Demonstrant*innen war geprägt von Unterdrückung und Gewalt. Der übermäßige Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen gegen die friedliche Demonstration trug zur Eskalation bei und führte zu einer erhöhten Wut und einem verstärkten Widerstand.
Die Weigerung der Regierung, auf die Forderungen und Sorgen der Demonstrant*innen einzugehen, verstärkte die Spannungen. Die Bevölkerung fordert nicht nur den Schutz des Gezi-Parks, sondern auch eine grundsätzliche Anerkennung ihrer Rechte und Freiheiten – Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, individuelle Freiheiten, demokratische Reformen. Es fehlte durchgängig an der Bereitschaft der Regierung, auf den Dialog einzugehen und Lösungen zu finden. Die Proteste erstreckten sich auf etwa zwei Monate.
Während der Gezi-Proteste im Jahr 2013 wurden Tausende von Menschen verletzt. Es gab mehrere Todesfälle.
Let’s watch some penguins! – Mediale Zensur
Eines der bekanntesten Symbole der Gezi-Proteste wurde das Graffiti eines Pinguins. Es entstand, nachdem türkische Nachrichtensender, wie CNN Türk, beschlossen, keine Berichterstattung über die Proteste zu zeigen und stattdessen eine Dokumentation über Pinguine auszustrahlen. Dieses Bild des Pinguins wurde zu einem Symbol für die Medienzensur und das Versagen der Mainstream-Medien, über die Proteste zu berichten. Nicht nur wurden Berichte zensiert oder Tatsachen verschwiegen, auch wurden von Seiten der Regierung falsche Nachrichten und Anschuldigungen verbreitet.
Reporter*innen wurden angegriffen, festgenommen oder eingeschüchtert, um sie davon abzuhalten, über die Ereignisse zu berichten. Viele Journalist*innen müssen mit erheblichen rechtlichen Konsequenzen rechnen, sofern sie sich annähernd kritisch oder in Bezug auf die Proteste berichten.
Die Aktivist*innen und die Bevölkerung nutzen daher verstärkt soziale Medien und alternative Informationskanäle, um ihre Botschaften zu verbreiten und die Ereignisse unabhängig zu dokumentieren.
Ursprünglich als Abwertung verwendet, wurde „Çapulcu“ während der Gezi-Proteste zu einem symbolischen Begriff. Das Wort bedeutet so viel wie „Plünderer“ oder „Randalierer“. Im Gezi-Kontext verwendet der türkische Präsident diesen Begriff, um Aktivist*innen zu betiteln. Als Reaktion wird der Begriff von der Protestbewegung angeeignet und umgedeutet. Es wird zu einem Ausdruck, auf den die Menschen stolz sind. Das Wort „Çapulcu“ wird zu einem Slogan der Solidarität und des Zusammenhalts und findet Verwendung auf Plakaten, Graffitis und in den sozialen Medien.
Zehn Jahre später…
In den Jahren nach den Gezi-Protesten hat die türkische Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um ihre Kontrolle und Macht zu festigen. Verstärkte Einschränkung der Pressefreiheit, Schließung von Medienunternehmen, Verhaftungen von Journalist*innen und Oppositionitgliedern sowie eine zunehmende Repression gegenüber Andersdenkenden.
Die Regierung führt eine Reihe von Verfassungsänderungen durch, um ihre Befugnisse zu erweitern und die institutionellen Kontrollmechanismen zu schwächen.
Die Demokratie und Menschenrechte sind seitdem sehr stark bedroht.
Die Gezi-Proteste sind zu einem Zeichen für den Kampf um demokratische Rechte und Freiheiten in der Türkei geworden und haben international Aufmerksamkeit erregt.
Obwohl sie von der türkischen Regierung niedergeschlagen wurden, hatten sie einen bedeutenden Einfluss auf die politische Landschaft des Landes. Sie markierten einen Wendepunkt für die Oppositionsbewegung und trugen zur Stärkung der Zivilgesellschaft und des politischen Aktivismus bei. Die Gezi-Proteste boten eine Plattform, um diese Anliegen zum Ausdruck zu bringen und den Missmut gegenüber der Regierung zu artikulieren.
Sie hinterlassen eine dauerhafte Erinnerung an den Wunsch nach Veränderung und Reform in der türkischen Gesellschaft.
Text: Dila Oktar
Quellen:
https://taz.de/Raeumung-des-Gezi-Parks/!5065248/
https://www.deutschlandfunk.de/fuenf-jahre-nach-den-protesten-was-von-gezi-bleibt-100.html
https://www.tagesspiegel.de/kultur/was-von-gezi-blieb-4848571.html
Guttstadt, T. (2016). Çapulcu: Die Gezi-Park-Bewegung und die neuen Proteste in der Türkei. Transcript Verlag.