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Gesellschaft & Geschichten

Warum auch bei uns das „i“ in BiPoC nicht fehlen darf

Über die indigenen Völker Europas und Euroasiens

Seit längerer Zeit begegnen wir dem Akronym BiPoC in den Medien immer häufiger. BiPoC steht für Black, Indigenous und People of Color und soll auf die unterschiedlich ausgeprägten Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen zahlreicher Communities aufmerksam machen, die sonst hinter der negativ konnotierten Beschreibung „Menschen mit Migrationshintergründen“ untergehen. Das Akronym erkennt die Ungerechtigkeiten an, die diese Communities erleben und untermauert besonders die kollektive Erfahrung. Doch manchmal verschwindet das „I“ in BiPoC, mit der Begründung, es gäbe keine indigenen Völker in Europa. Ganz im Gegenteil. Es gibt sie. Auch in Deutschland und Österreich. Mit der Streichung werden sie aus dem Diskurs ausgeklammert und das ist gesamtgesellschaftlich betrachtet nicht zielführend.

Indigene Völker = „I-Wort“ aus den USA?

In Deutschland verbinden wir indigene Völker, automatisch, mit den „I-Wort“ Amerikas, wobei die Bezeichnung ein historischer Irrtum ist und sich ursprünglich auf Inder/Inderinnen bezieht. Um 1850 schrieb der deutsche Autor Karl May seine Geschichten über Winnetou, einem Stammeshäuptling der Mescalero-Apachen aus dem Südwesten der USA. Die stereotypisierte Darstellung in den Romanen machten den Autor berühmt und eine zweite Popularitäts-Welle erfuhren sie mit ihrer Verfilmung in den 1960er Jahren. Schlagersänger Olaf Henning komponierte den Song „Cowboy und I-Wort“, in dem der Name eines Kinderspiels musikalisch inszeniert wird. Bei dem Kinderspiel jagen Cowboys die I-Wörter bzw. die Guten jagen die Bösen. „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“ ist ein weiteres fragwürdiges Kinderspiel. Ganz nach dem Prinzip des Cultural Appropriation verkleiden sich Menschen an Karneval schließlich als Cowboy und I-Wort. Das Gesicht wird wie beim Black-Facing braun bemalt, mit ein paar bunten Strichen hier und da. Schließlich wird dem Ganzen, mit einem Federstirnband auf dem Kopf, die Krone aufgesetzt. Eventuell kommt eine orientalische Hennabemalung hinzu, um das Outfit besonders authentisch zu machen. Romantisiert wird das Ganze etwa mit dem Gedanken an Pocahontas von Disney. Die Vorstellungen kreisen zumeist um die Völker in Amerika, v.a. aus den USA. Seien es die Azteken aus Kalifornien (oder dem Videospiel Anno), die Cherokee aus Oklahoma, oder die Inka aus Peru. Wir kennen ausschließlich die bekannten Stammesgruppennamen.

Eine Frage der Identität

Es gibt aktuell keine offiziell anerkannte Definition für indigene Völker. Die UN hat allerdings ein fact sheet bzw. ein Merkblatt mit den wichtigsten Fakten zusammengestellt. Demnach leben mehr als 370 Millionen indigene Menschen weltweit, verteilt über 70 Länder. „Indigen“ ist ein generischer Begriff. Es gibt Communities, die sich eher mit Bezeichnungen wie Stamm, ethnische Minderheit, Ureinwohner oder Aborigine identifizieren. In Anbetracht der zahlreichen Migrationsströme der letzten 15.000 Jahre nach Deutschland, ist die Definition über die Identitätsfrage am ertragreichsten für indigene Menschen aus Deutschland. Meine türkeistämmige Tante ist bspw. mit einem Inka-Peruaner verheiratet. Ihre beiden Töchter, die in Deutschland geboren sind und hier aufwachsen sind intersektionell betrachtet, Indigenous sowie People of Color zugleich, also IPoC. Neben der Selbstidentifizierung, werden der Minoritätenstatus, eine andere Sprache als die Landessprache, sowie kulturelle Eigenarten und Glauben erwähnt. Die ältere Generation der Inka etwa glaubt an die princesa del sol, also die Sonnenprinzessin, die über die Menschen wacht. Auch eine enge Verbindung zu dem Konzept von Territorien und umliegenden, natürlichen Ressourcen wird aufgezählt. Allerdings sollte beachtet werden, dass viele indigene Menschen heute nicht immer nach diesen Konzepten leben. Die Lebensweisen haben sich an die moderne Zeit angepasst.

Ein lasisches Pärchen von hinten fotografiert. Sie tragen Hochzeitstracht und dazu Wanderrucksäcke.

Liebe & Freiheit steht auf Lasisch auf der Wanderausrüstung des frisch verheirateten Paares in Hochzeitstracht, 2019. © Sinan Serin

Die Sámi

Im Norden Europas, in Schweden, Norwegen, Finnland bis hin zur russischen Halbinsel Kola leben etwa 80.000 Sámi (dt. Samen), ein uralisch-indigenes Volk. In Schweden haben sie einen offiziellen Minoritätenstatus und genießen dadurch besondere Rechte. Ihre Kultur, ihre Traditionen und ihre Sprachen sind durch das Gesetz geschützt. Um sich das Leben in Schweden aufgrund eines ehemaligen Steuergesetzes finanzieren zu können, mussten die Sámi ihren Lebensstil anpassen. Sie gaben ihr Leben als Küsten- und Waldfamilien auf und lebten als Rentier-Hirten. 10% der Sámi-Familien heute lebt von der Rentier-Haltung. Seit dem 1700 Jahrhundert halten die Sámi Rentiere. Früher sind sie mit den Tierwanderungen mitgezogen, doch heute haben sie einen festen Wohnsitz mit einer zusätzlichen Hütte in den Bergen. Der Rentierhandel ist gesetzlich geregelt, wodurch es auch noch heute zu Konflikten mit der Regierung kommt. Seit 1993 haben die Sámi ihr eigenes Parlament in Schweden, mit etwa 50 Abgeordneten, die sich speziell um die Belange der Sámi kümmern. Bis es jedoch zu diesen Entwicklungen kommen konnte, haben auch die Sámi eine Leidensgeschichte von Rassismus und Missbrauch hinter sich. Über Jahrhunderte hat die Schwedische Kirche die Sámi massiv unterdrückt, weshalb ihre Religion und Teile ihrer Kultur verloren gegangen sind. Auch die traditionelle Musik Yoik war verboten. Heute vermischen zeitgenössische samische Musiker:innen Yoik mit Pop, Hip-Hop oder Rock. Beispiele sind Maxida Märak, Sofia Jannok und Jon Henrik Fjällgren.

Eine ältere Frau sitzt auf einer Wiese. In ihrer Hand hält sie einen Wanderstock. Hinter ihr beugt sich eine Kuh zum Fressen herunter.

Mutter des lasischen Fotografen an Muttertag in den Tafelländern von Çamlıhemşin der türkischen Stadt Rize, 2019. © Sinan Serin

Die Lasen

„Ich habe keine Heimat, keinen eigenen Ort. Ich bin auf der Welt zu Hause“. Dieses Zitat ist in das Denkmal der lasischen Ikone bzw. des Poeten und Sängers Kazım Koyuncu eingraviert. Das Denkmal befindet sich in Artvin, einer Stadt nordöstlich der Türkei. Die Lasen sind eine indigen-ethnische Gruppe, dessen Sprache vom Aussterben bedroht ist. In der Antike lebten die Lasen in Lasistan, einem Königreich, das auch unter dem Namen Kolchis bekannt ist. Das Königreich erstreckte sich über das heutige Georgien, Sotschi in Russland sowie die Schwarzmeerregion der Türkei mit den bekannten Städten Trabzon, Samsun und Rize. Die Lasen sprechen Lazuri. Lazuri gehört zur südkaukasischen Sprachfamilie, zu der auch Georgisch, Mingrelisch und Swanisch gehören. 1982 war es in der Türkei verboten, Minoritätensprachen an Schulen zu unterrichten. 20 Jahre später wurde dann ein Gesetz erlassen, dass das Erlernen von Minoritätensprachen wieder erlaubte. 2013 wurde das Laz Institut in Istanbul gegründet, welches zusammen mit dem Ministerium für Bildung ein Curriculum für Lazuri-Unterricht an der Oberstufe erarbeitet hat. Seither gibt es eine steigende Zahl an zertifizierten Lehrkräften und der Lehrplan wird jährlich überarbeitet. Das ist allerdings nicht genug, um die Sprache vor einer Extinktion zu schützen. 2001 gab es bis zu 150.000 Menschen, die Lazuri sprachen. Auch die lasische Kultur ist durch Migrationsbewegungen, etwa in die Metropolstadt Istanbul bedroht, sowie durch Gastarbeiter:innen-Emigrationen nach Deutschland. Das Fehlen von Schriftquellen trägt ebenso zur Sprachextinktion bei. Einzig die lasische Küche ist seit der Antike gut erhalten geblieben. Malahto, Lu Pirinconi und Trakosti nennen sich einige der zahlreichen Gerichte, die heute noch gekocht werden.

 

Mehrere Männer, die demonstrieren. Sie halten Schilder in den Händen.

Demonstration vor dem Bundeskriminalamt in Wiesbaden um gegen die fortgesetzte Sondererfassung zu protestieren, 1983 © Zentralrat Deutscher Sinti:zze und Rom:nja

 

Die Sinti:zze und Rom:nja

In einigen englischsprachigen Quellen werden auch die Sinti:zze und Rom:nja als indigene Völker anerkannt, die in verschiedene Stämme oder Untergruppen unterteilt sind. Sinti:zze und Rom:nja sind demnach zwei Untergruppen der Roma, beschreiben aber die große Vielfalt der Communities. Roma ist nach dem Roma National Congress (RNC) die Sammelbezeichnung für die zahlreichen Untergruppen, z.B. die spanischen Calé, die ungarischen Gabor oder die armenischen Lom. Sinti:zze sind vorwiegend in Deutschland beheimatet, weshalb in deutschen Diskursen die erweiterte Bezeichnung „Sinti:zze und Rom:nja“ verwendet wird. Schleswig-Holstein ist das erste Bundesland, welches die Sinti und Roma als ethnische Minderheiten 2012 in den Landesverfassungsschutz aufgenommen hat. Sinti:zze und Rom:nja sind Minderheiten, die vor etwa 1.000 Jahren nachweislich von Indien und Pakistan über Persien, Kleinasien und Balkan bis nach Europa und Amerika emigriert sind. Darunter auch nach Deutschland und Österreich. Das hatte allerdings keine nomadischen Gründe, sondern politische und wirtschaftliche, denn sie wurden stets verfolgt und vertrieben. 1938 gab es das „Reichskriminalamt zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ in München. Viele Sinti:zze und Rom:nja wurden während des zweiten Weltkriegs in Konzentrationslagern ermordet, welches heute als Genozid unter dem Namen „Porajmos“ anerkannt ist. Sie haben auch eine Geschichte der Versklavung in Osteuropa hinter sich. Ihre Geschichte unterscheidet sich mittlerweile regional, doch das Othering (dt. Fremdmachung) war, oder ist, überall ähnlich. Selbst heute noch werden Sinti:zze und Rom:nja mit beleidigenden Bezeichnungen wie „Zigeuner“ oder „Cigany“ adressiert. Nichtsdestotrotz sind ihre Sprachen, maßgeblich durch den Austausch zwischen den Generationen, gut erhalten geblieben, trotz fehlender Schriftquellen auch hier. Sinti:zze und Rom:nja sprechen Romanes, welche mit der altindischen Hochsprache Sanskrit verwandt ist. Es haben sich über die Zeit hinweg verschiedene Dialekte gebildet, z.B. das Deutsche Romanes, welches von Einflüssen der deutschen Sprache durchzogen ist, oder auch das Romanes-Vlax in Österreich. Aus Angst vor Ausgrenzung und Othering geben Sinti:zze und Rom:nja ihre Identität in der Gesellschaft oft nicht preis. Der Sänger des Songs „Marmor, Stein und Eisen bricht“ Drafi Deutscher, Gitarrist der Rolling Stones Jon Wood, sowie Komiker Charlie Chaplin sind Sint:izze und Rom:nja Berühmtheiten.

 

Lektorat: Vildan Çetin, Deniz Lara Zimmermann

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