„Ich habe so spät angefangen zu schreiben, dass es immer noch zu früh war.“

Im Gespräch mit Meltem Gürle

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Wir sind mit Meltem Gürle in einem gemütlichen Café in der Beethovenstadt Bonn verabredet. Sie ist Professorin für neuere türkische und englische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Der Platz, an dem sich das Café befindet, heißt Friedensplatz. Bevor er auf den Namen Frieden umgetauft wurde, trug er während der Zeit des Nationalsozialismus den Namen Adolf Hitlers. Ich denke darüber nach, ob es nicht Zufall ist, dass wir uns ausgerechnet hier treffen. Denn paradoxerweise wurde Meltem Gürle, die an der Bosporus-Universität lehrte, wegen „Terrorpropaganda“ verurteilt, weil sie eine Friedenspetition unterzeichnete. Mittlerweile lebt sie in Deutschland und ist die Autorin des Essaybands Kırmızı Kazak (dt. Roter Strickpullover), welcher aus ihren Kolumnen besteht, die bereits in der türkischen Tageszeitung BirGün erschienen sind. Es liest sich wie einen Roman und beinhaltet Themen wie Literatur, Kindheitserinnerungen und inspirierende Lebenserfahrungen.

Während wir an unserem Kaffee nippen, führen wir ein äußerst spannendes und tiefgründiges Gespräch. Neben Fragen zu ihrem aktuellen Werk, zur Literatur und ihrer Persona fragen wir auch ganz dreist nach ihrem Sternzeichen.

Ihr Essayband Kırmızı Kazak hinterlässt bei den Leser*innen den Geschmack eines autobiografischen Romans. War dies auch Ihre Intention?

Eigentlich war mir das überhaupt nicht bewusst. Ich hatte einen guten Freund, der Journalist ist und darauf beharrte, dass ich anfange, Kolumnen zu schreiben. Da ich schon immer eine Angst vor dem Schreiben hatte, lehnte ich es zunächst ab. Als dann Oğuz Atays Todestag nahte, versuchte mich mein Journalistenfreund noch einmal von der Idee des Schreibens zu überzeugen. Oğuz Atay war mein wunder Punkt. Ich schrieb einen kurzen Text über ihn und schickte ihn ab. Als er veröffentlicht wurde, stellte ich fest, dass ich eine eigene Kolumne erhalten habe und von nun an dazu gezwungen war, wöchentlich zu schreiben. Aus diesen Kolumnen entstand später der Essayband. Hierfür filterten wir die Texte heraus, die eher beständig als gegenwärtig waren und pickten primär die Geschichten, beginnend mit den Kindheitserinnerungen, heraus. Am Ende lag uns eine Art Bildungsroman vor, der u.a. auch zu meinen Forschungsgebieten gehört.

Können Sie sich irgendwann auch mit der Idee anfreunden, einen Roman zu schreiben?

Wenn ich je gewusst hätte, dass aus meinen Kolumnen ein Buch entstehen könnte, dann hätte ich mich niemals getraut, überhaupt mit dem Schreiben zu beginnen. Ich schrieb diese Geschichten nacheinander. Einerseits verlangt die Arbeit als Kolumnist*in Disziplin, andererseits wirkt sie erleichternd, da das zu schreibende Textformat in seiner Länge und seinem Umfang begrenzt ist. Die Vorstellung einen Roman zu schreiben, ist angsteinflößend. Wenn wir beispielsweise den klassischen Roman betrachten, ist es ein Akt, der einfach kein Ende zu nehmen scheint. Man könnte, wie russische Autor*innen, ohne Punkt und Komma schreiben. Wenn ich mir das vor Augen führe, fühle ich mich wie gelähmt. Aber wenn man mich irreführen würde, indem man mir nicht sagt, dass ich einen Roman schreiben soll, sondern täglich nur ein-bis zweiseitige Texte zustande bringen müsste, dann könnte es durchaus sein, dass ich einen Roman schreibe, ohne mir dessen bewusst zu sein.

Dann hoffen wir doch, dass man Sie eines Tages irreführen kann. Sie sprechen von Angst. Der Einleitungssatz Ihres Buches lautet: „Ich habe so spät angefangen zu schreiben, dass es immer noch zu früh war.“ Sie erwähnen, dass sich diese Angst bereits in der ersten Klasse erkennen ließ. Wovor genau haben Sie Angst?

An erster Stelle ist es das Gefühl, nicht gut genug sein zu können – als jemand, der im Osten schreibt, als jemand, der spät dran ist und als jemand, der bereits viele grandiose Schriftsteller*innen gelesen hat und sich angesichts ihrer Pracht klein fühlt. Vor allem aber als jemand, der eine Frau ist. Als Frau ist es weitaus schwieriger, sich zu beweisen und sagen zu können „Hey, hier bin ich“ und „Hey, das bin ich“. Natürlich ist das eine verallgemeinerte Aussage, aber auf mich trifft sie zu. Der Gedanke, nicht gut genug sein zu können, mag vielleicht perfektionistisch klingen, aber eigentlich ist es nicht so. Wie soll man sich bitte an das Schreiben wagen, nachdem man Meisterwerke von Kafka gelesen hat?

Ein Zitat aus Ihrer Geschichte Einführung in den Müßiggang (tr. Aylaklığa Giriş): „Später sollte ich feststellen, dass Freiheit kein großes Geschenk, sondern eine schwere Last ist. Aber dafür war es noch zu früh.“ Ab welchem Zeitpunkt und weshalb wird die Freiheit als eine Last von Ihnen empfunden? 

Als Pubertierende war es mein größter Wunsch, Freiheit zu genießen. Dementsprechend wartete ich, bis ich achtzehn Jahre alt wurde und mit dem Studienbeginn ausziehen konnte.  Als es dann so weit war, fiel mir die langersehnte Freiheit plötzlich in den Schoß. Sie war grausam. Keiner sagte mir, was ich zu tun hatte. Ich musste meine Entscheidungen selbst treffen und mit Fehlentscheidungen zurechtkommen. Die Freiheit kam Hand in Hand mit einer großen Verantwortung. Deshalb versuchen wir auch im politischen Leben die Freiheit so schnell wie möglich loszuwerden. Wir ziehen es vor, dass Regierungen für uns entscheiden. Wir bevorzugen das Einfache. Denn die Freiheit tanzt nicht immer mit dem Glück an. Dostojewski sagte einst in Die Brüder Karamasow: „Am Ende werden sie uns ihre Freiheit zu Füßen legen und zu uns sagen: Macht uns zu euren Sklaven, aber füttert uns.“ Aber meine endgültige Antwort lautet:

Erst habe ich mit der Freiheit gekämpft, dann lernte ich sie zu tragen. Ich werde sie Keinem zu Füßen legen!

In der Geschichte Arbeitsheft (tr. İş Defteri) schreiben Sie, dass Sie als Kind nicht die Klappe halten konnten. Führte das Schreiben dazu, dass Sie sich zu einer introvertierten Persönlichkeit entwickelten?

Wie Du siehst, bin ich nicht ganz introvertiert. Ich rede immer noch, vielleicht sogar etwas zu viel. Als Kind konnte ich meine Klappe nicht halten und wurde deshalb oft zugerichtet. Anscheinend sagte ich Dinge, die nicht angebracht waren. Das Lesen und Schreiben rettete mir das Leben und öffnete mir die Tür zu einer ganz neuen Welt. Es stimmt schon, dass ich in dieser Welt zu einer in sich gekehrten Person wurde.

Als Kind konnte ich meine Klappe nicht halten und wurde deshalb oft zugerichtet. Anscheinend sagte ich Dinge, die nicht angebracht waren.

In Ihren Kolumnen behandeln Sie wichtige Werke der Literatur anhand Ihrer eigenen Lebenserfahrungen und Erinnerungen. Was wollen Sie mit Ihren Texten bewirken?

Ich denke nicht, dass die Literatur weit entfernt vom realen Leben ist. Genau das versuche ich zu erklären. Die Literatur war für mich ein Mittel, um das Leben kennenzulernen. Ich stelle mir vor, dass die Leser*innen auch einen Bezug zwischen der Literatur und dem Leben herstellen. Und wenn sie auch mit dem, was ich schreibe, einen Bezug herstellen können, macht mich das natürlich mehr als glücklich.

Ich denke nicht, dass die Literatur weit entfernt vom realen Leben ist.

In Kırmızı Kazak schreiben Sie auch viel über Ihre Zeit als Dozentin an der Bosporus-Universität. Vermissen Sie Ihre dortigen Student*innen? Wie ist das Verhältnis zu Ihren Student*innen in Deutschland?

Ich vermisse meine Student*innen in der Türkei sehr. Wir hatten ein sehr herzliches Verhältnis. Nach den Vorlesungen gingen wir zusammen immer Kaffee trinken. In Deutschland ist die Beziehung zwischen Dozent*innen und Studierenden distanzierter. Dennoch bereiten mir auch hier die Vorlesungen sehr viel Freude. Bei einer Vorlesung setzte sich beispielsweise die Gruppe von Studierenden wie bei den Vereinten Nationen gemischt zusammen – von Brasilien bis Russland und von Deutschland bis China waren alle Länder vertreten. Durch die verschiedenen Perspektiven kamen wir in heiße Diskussionen. Ich habe dadurch viel gelernt und auch die Studierenden nahmen viel mit. Am Ende der Veranstaltung kamen einige zu mir um sich zu bedanken, aber keiner lud mich zum Kaffeetrinken ein.

Vermissen Sie die Türkei oder sind Sie mit Ihrem Leben in Deutschland zufrieden?

Beide Fragen kann ich mit ja beantworten. Aber eigentlich kann ich nicht sagen, ob es die Türkei ist, an das ich mich gerne zurückerinnere oder ob es nur noch ein Gedankenkonstrukt ist, welches ich vermisse. Die Türkei wandelt sich schnell. Ich bin mir nicht sicher, ob es noch das Land ist, das ich bereits kennenlernen durfte. Meine Familie und Freund*innen vermisse ich unglaublich sehr. Ich vermisse es mit den Menschen über dieselben Dinge zu lachen. Manchmal vermisse ich den Bosporus und träume sogar davon. Aber inzwischen habe ich mich an das Leben hier gewöhnt. Ich liebe meine Stadt Bonn. Mein Mann und ich wurden herzlich aufgenommen. Ich kann mich nicht beklagen.

Was bedeutet für Sie der Begriff Heimat?

Genau dazu lese ich aktuell das Buch Das Zweite Leben (tr. İkinci Hayat) von Nurdan Gürbilek. Ich will daraus ein Zitat von Edward Said vorlesen. (holt das Buch heraus und schlägt es auf) „Die, die von ihrer Heimat schwärmen, sind noch am Anfang des Weges. Die, die jeden Ort als ihre eigene Heimat ansehen, sind stark. Und die, denen alle Orte dieser Welt fremd sind, sind vollkommen.” Und so geht es weiter: „Die Liebe einer Seele, die sich noch am Anfang des Weges befindet, ist an einem einzigen Punkt verankert. Die Liebe eines starken Menschen ist überall verstreut. Der vollkommene Mensch hingegen hat seine Liebe zum Erlöschen gebracht.“ Ich habe meine Heimat verlassen, als ich noch von ihr schwärmte und somit befand ich mich auf der untersten Stufe dieses Werdegangs. Heute bin ich dabei, die zweite Stufe zu betreten. Es tut mir weh, mein Zuhause und meine Heimat verlassen zu haben, denn dadurch habe ich auch Familie und Freund*innen verloren. Andererseits denke ich mir: Überall gibt es gute Menschen. Es ist nicht einfach, ein neues Leben zu schaffen, aber es ist möglich.

Haben sich Ihre Gewohnheiten geändert, seitdem Sie in Deutschland leben?

Inzwischen meckere ich, wenn etwas nicht nach Plan läuft. Das ist äußerst merkwürdig, denn in der Türkei läuft nichts nach Plan, aber meckern tut keiner. Wenn beispielsweise in der Türkei der Bus nicht kommt, dann kommt er eben nicht. Es ist dort alles nur eine Wahrscheinlichkeit. Hier sieht es anders aus. Der Bus hatte heute drei Minuten Verspätung und ich habe mich wirklich aufgeregt und sehr „deutsch“ auf die Situation reagiert. Das heißt wohl, dass ich integriert bin. (lacht)

Wenn beispielsweise in der Türkei der Bus nicht kommt, dann kommt er eben nicht. Es ist dort alles nur eine Wahrscheinlichkeit.

Welche Erwartungen hatten Sie, als Sie hierherkamen?

Ich hatte nicht allzu viele Erwartungen. Zahlreiche Akademiker*innen, die eine Friedenspetition unterzeichneten, wurden wegen „Terrorpropaganda“ verurteilt. Ich kündigte, aber viele meiner Freund*innen wurden entlassen. Meine einzigen Erwartungen waren, erneut unterrichten, am akademischen Leben teilhaben und einfach am Leben bleiben zu können. Das hört sich jetzt sehr dramatisch an und ich bekomme dabei auch ein unwohles Gefühl, weil viele meiner Kolleg*innen sich in einer äußerst schlimmeren Lage befinden. Daher will ich ihnen kein Unrecht tun.

Mit welchen Schwierigkeiten sind Sie hier konfrontiert?

Das Schreiben und mein „Ich“ haben uns voneinander entfernt. Als Kolumnistin in der Türkei wusste ich, dass meine Student*innen und Freund*innen sich meine Texte durchlesen würden. Es war so, als würde ich für sie schreiben. Hier habe ich keine Ahnung, ob jemand meine Texte liest und in welcher Sprache ich überhaupt schreiben soll. Ich kann zwar Deutsch, aber habe trotzdem Schwierigkeiten im sozialen Leben und merke, dass ich verkindliche, weil ich mich in der deutschen Sprache nicht gut genug ausdrücken kann. Die Feinheiten der Sprache, in der mein Humor Ausdruck findet, verschwinden und somit auch meine Identität.

Die Feinheiten der Sprache, in der mein Humor Ausdruck findet, verschwinden und somit auch meine Identität.

Sie zitieren in Kırmızı Kazak Ihren Opa: „Nicht die Schnelligkeit und der Glanz macht ein gutes Auto und einen guten Roman aus, sondern die Eigenschaft, das Rennen gegen die Zeit gewonnen zu haben.“ Können Sie uns einen Roman empfehlen, der dieses Rennen gegen die Zeit gewonnen hat?

Ich will einen türkischen Klassiker empfehlen, mit dem auch die deutsche Leserschaft etwas anfangen kann. Die Haltlosen (tr. Tutunamayanlar) von Oğuz Atay, welches 2016 ins Deutsche übersetzt wurde, wird für immer ein türkischer Klassiker bleiben. Sie werden dort eine Türkei wiederfinden, die man so nicht kennt.

Bonus: Die Meltem Gürle, die uns in Kırmızı Kazak begegnet, sticht mit einer Persönlichkeit hervor, die Angst davor hat, andere Menschen zu verletzen. Sie ist auf die Vergangenheit ausgerichtet, hat eine ausgeprägte Fantasiewelt und ist äußerst sensibel. Ist sie vom Sternzeichen Fische oder Krebs? (Als Astrologiefreak musste ich diese Frage stellen.)

Ich bin vom Sternzeichen Krebs 🙂

 

Text: Berivan Kaya
Fotos: Nathan Dreessen

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