Yeşilçam – viele von euch, die dieses Wort hören, denken zurück an die Vergangenheit. An die Erlebnisse in den Kinos oder zu Hause vor dem Fernseher mit der Familie, an Schauspieler*innen wie Türkan Şoray, Tarik Akın, Fatma Girik, Kemal Sunal, Adile Naşit und vielen weiteren. Besonders die selbstbewussten, frechen weiblichen Charaktere waren neu.
Mehr Nähe zum Publikum
So viel Leidenschaft und so viel Nähe zu den Zuschauer*innen wurde noch nie zuvor im türkischen Kino gezeigt. Berühmte Sätze wie „Nayır, nolomaz!“ sind jungen und älteren Menschen in der Türkei nach wie vor bekannt.
Der türkische Film gewann ab den 50er Jahren mehr und mehr an Bedeutung. Nicht nur in Istanbul und Ankara wurden Kinos errichtet, sondern auch in den kleinsten Dörfern Anatoliens. Yeşilçam sollte nicht nur unterhalten, die Filme zeigten Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten; Kinder als Halbwaisen mit unerträglich bösen – zumeist – Stiefmüttern beispielsweise. Doch Hauptthema war oft eine unmögliche und herzzerreißende Liebesgeschichte, die meistens jedoch im Happy End gipfelte!
Das anatolische Hollywood
Die Yeşilçam-Ära symbolisiert das frühe türkisches Kino und ist das anatolische Pendant zu Hollywood und Bollywood. Der Name entstand ganz einfach: Der Sitz der Filmproduktionen war damals angesiedelt im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu in der Straße Yeşilçam Sokağı. Seit den 1950ern und bis Ende der 1970er erlebte das türkische Kino seine goldenen Zeiten. In Zeiten von Knappheit an Drehbuchautor*innen, Filmrollen und natürlich ohne Budget entstanden Meisterwerke wie „Hababam Sınıfı“, „Süt Kardeşler“, „Canim Kardeşim“ und vor allem „Sultan“.
Kreativität war gefragt. Kameramänner klebten Filmrollen zusammen, Schauspieler*innen improvisierten ihre Texte und verzichteten zum Teil auch auf ihre Gehälter. Eine turbulente Ära des türkischen Kinos wurde geboren und die Schauspieler*innen manifestierten sich zu den Lieblingen einer ganzen Nation.
Neue Charaktere
Besonders hervorzuheben ist die Darstellung der weiblichen Charaktere. Ich erinnere mich, wie ich als Teenager all die Filme sah und trotzt manchmal klischeehafter Darstellung der Frauen, war ich begeistert von den Rollen! Die Stärke und Frechheit der selbstbewussten weiblichen Charaktere faszinierten mich auf eine wundersame Art und Weise.
Die Rollen zeigen verschiedene Typen; Frauen vom Dorf, die in die Großstadt ziehen, alleinerziehende Mütter oder gar welche, die ihre Ehemänner betrügen – „Çok ayıp!“. Frauen, die kein Blatt vor den Mund nehmen.
Meistens ging es um sehr unabhängige Frauen, die kein Blatt vor den Mund nehmen. Genau die wurden zu den Vorbildern der damaligen Mädchen und Frauen. Sie kleideten sich wie die Schauspielerinnen, sie schminkten sich genauso, verhielten sich ebenfalls so wie ihre Idole und sie träumten alle von einem Tarık Akan. Sex war nicht mehr Tabu, aber es war auch nicht so weit, dass leidenschaftliche Szenen gezeigt wurden oder man auf öffentlicher Straße darüber redete. Dennoch – es war ein Schritt nach vorn.
Einer meiner Favoriten aus dieser Ära ist der Film „Sultan“ aus dem Jahr 1978 mit Türkan Şoray in der Hauptrolle. Sie spielt eine alleinerziehende Mutter mit vier Kindern aus ärmlichen Verhältnissen. Sultan ist eine überforderte, aber sehr selbstbewusste Frau. Im Film wird öfter erwähnt, dass sie auch die Arbeit von Männern zu Hause übernehmen muss – denn es gibt ja schließlich keinen Mann. Doch der gutaussehende Dolmuş-Fahrer (Anm.d.Red.: Sammeltaxis in türkischen Städten) Kemal, der berühmt für seine Verführungskünste ist und mit fast allen Frauen des Viertels geschlafen hat, hat es auf sie abgesehen.
Oft hört man ihn sagen: „Off.. ne kadın be“ – und die Antwort der Leute ist nur: „Hast du es jetzt auf verwitwete Frauen abgesehen? “ oder „Ayıp be, ayıp!“. Hier bekommt man mit, dass dies an sich eine eigentlich verbotene Liebesbeziehung wäre, denn es ist ja „ayıp“.(dt: Schande)
Eine verwitwete bzw. geschiedene Frau mit Kindern, alleinerziehend, darf doch niemals eine neue Beziehung eingehen! Was sollen denn die Nachbar*innen sagen? Und dass ein Mann eine verwitwete Frau attraktiv findet – das geht gar nicht! Seine Antwort ist jedoch immer gleich: „Eine Frau ist eine Frau, und wenn sie hübsch ist, dann guck‘ ich ihr nach!“.
Rein und raus aus der Schublade
Sultan hält am Anfang nichts von dem Casanova, aber letztendlich verliebt sie sich in ihn als er um ihre Hand anhält. Dabei ist die Heirat von Kemals Seite aus eine Lüge, um Sultan ins Bett zu kriegen, wozu er sie zu überreden versucht. Sie hingegen beharrt darauf, auf die Hochzeit zu warten. Nachdem Kemal bei seiner Liebhaberin gesichtet wurde und sein Vater sich bei Sultan verplappert, gibt es eine böse Trennung, da Sultan herausfindet, dass alles nur gelogen war. Sie ist zutiefst verletzt und die Trennung endet mit einer körperlichen Auseinandersetzung der beiden.
Diese Schlacht wird aber gar nicht als so dramatisch wahrgenommen. War es okay, gegen eine Frau die Hand zu erheben? Oder wurde sie einfach mit ihm gleichgestellt? Letzten Endes gestehen sie sich doch ein, dass sie sich lieben. Es folgt ein weiterer, diesmal ehrlicher Heiratsantrag von Kemal – diesmal mit Ehering, einem Hochzeitskleid und Sultan akzeptiert: Happy End!
Doch was sagt nun „Sultan“ über die Rolle der Frau in der Gesellschaft aus? Sie kämpft immer für ihr Recht, lässt sich nicht unterbuttern und sagt ihre Meinung – egal, wer vor ihr steht. Sie hat keine Angst vor Konflikten und verhält sich zum Teil fast wie es damals nur Männer tun sollten. Doch dann hat sie auch schwache Seiten und man sieht ganz klar, dass sie in eine Schublade gesteckt wird und zwischendurch dort auch wieder rausgeholt wird. Ein Stereotyp wird gezeigt und daraufhin wieder aufgehoben.
Eine Frau, die austeilt
Wie hat eine Frau zu sein? Was sind ihre Aufgaben? Putzen, eine gute Ehefrau sein, ihrem Mann alle Fehler verzeihen, sich um die Kinder kümmern, kochen und sich um das Wohl der Familie sorgen. All diese ungeschriebenen Regeln sind ganz klar von der Gesellschaft, die mehrheitlich von Männern angeführt wird, vorgeschrieben. „Sultan“ zeigt diese Werte und Normen, aber bricht auch mit ihnen, indem Sultan sich zum Beispiel mit Kemal prügelt. Sie kassiert Ohrfeigen, aber teilt auch selbst aus.
Trotzdem denkt auch sie in erster Linie an ihr „Namus“ (z.Dt.: „Ehre“), denn ansonsten wäre das eine Schande und alle würden über sie reden. Besonders als verwitwete Frau mit vier Kindern muss sie darauf achten, was die Leute denken oder reden. Man merkt eindeutig, dass die Frau in der damaligen Gesellschaft peu à peu aus ihrer gewohnten, alten klischeehaften Rolle austritt. Wenn auch nicht vollständig, ist es aber doch zu erahnen. Viele Tabus wie Sex vor der Ehe, knappe Kleidung und, wie in diesem Fall, eine alleinerziehende Mutter, die wieder heiratet, werden aufgegriffen. Damals empörend und doch die Realität Ende der 70er Jahre.
Die Yeşilçam-Schauspielerinnen manifestierten einen wichtigen feministischen Ansatz durch diese Ära. Sie zeigten sich freizügig, sie zeigten selbstbewusstes Auftreten, spielten mit ihren Reizen. So waren sie für viele ihrer damaligen Generation Idole, die einen Weg in die Zukunft ebneten.
Text: Derya Tuerkmen
Illustrationen: Elena Galuppo