Wir neuen Europäer bietet eine umfassende Sammlung von Gedichten, Kurzgeschichten, Fragmenten, Auszügen und Reden Örens. Seine Werke verfasst er auf Türkisch und wirkt bei ihrer anschließenden Übersetzung ins Deutsche mit. In seinem Vorwort schreibt Ören: „Die Texte erzählen die Geschichten von Flüchtenden, Einwanderern, Immigranten.“ (5)
Deutschland, ein türkisches Märchen
Sie tragen Titel wie Deutschland, ein türkisches Märchen, Halime flocht ihre schwarzen Haare, Rache, Paradies kaputt, Bitte nix Polizei, Wegwerfarbeiter und Eine Metropole ist kein Völkerkundemuseum. In dem Gedicht Fazil Usta war einer von ihnen halten Örens Verse den Moment einer Reise fest, wo sie mit einer Ankunft endet und zugleich auf unbekanntem Grund mit altbekannter Geste fortschreitet:
„Dreieinhalb Jahre wartete Fazil Usta,
bis die Reihe kam an ihn.
Als in München der Zug
in die Bahnhofshalle fuhr,
da murmelte er
»In Gottes Namen«,
schnappte seine Koffer, und
während die Griffe in seine Hände drangen,
setzte er, wie der Glaube es will, den
rechten Fuß zuerst, ein wenig nervös
auf den Boden von Almanya.“ (22)
Die Texte in Wir neuen Europäer sind gespickt mit Beschreibungen solcher Bewegungen und Handlungen. Durch Örens Vergangenheit am Theater überrascht dieser Fokus auf Körperlichkeit nicht. Für mich ist der Körper in Wir neuen Europäer vor allem verknüpft mit der Allgegenwärtigkeit von Arbeit in Örens Texten in Form von körperlicher Arbeit, von Fabrikarbeit, von Arbeit am Fließband, von Akkordarbeit, von getakteter und regulierter Arbeit, von fremdbestimmter Arbeit:
„Es gibt nur die Erde, die allen gehört,
und das Ding, das die Welt macht,
ist die Arbeitskraft.
Und alle, die ihre Arbeitskraft geben,
sie haben den gleichen Anteil an der Welt.
Sie müßten ihn haben.“ (52)
Wie an dieser Stelle im Gedicht Niyazi zieht Bilanz richtet Ören seinen Blick auf die Lebenswirklichkeiten von Lohnarbeiter*innen auch, um in stellenweise didaktisch anmutenden Passagen ein transkulturelles Klassenbewusstsein zu wecken. Ähnlich dem Blick Bertolt Brechts ist Örens externer dichterischer Blick primär ein kritischer, der die Missstände der Arbeits-, Wohn- und Lebensbedingungen türkeistämmiger migrantischer Arbeiter*innen anprangert.
Auf den Schultern von Riesen
Örens fiktionale Figuren sind dabei komplex. Sie vereinen Licht und viel Schatten, was sicherlich auch an der Auswahl an Texten für diese Sammlung liegt. Sie sind von Sehnsucht und Trauer betäubt, werden beschimpft und beschimpfen, erleben strukturellen und institutionellen Rassismus, formulieren Protest, lassen auf eigene Gewalterfahrungen ihrerseits gewalttätige Handlungen folgen und stellen ernüchtert fest, welch bittersüße Diskrepanz zwischen hoffnungserfüllten Lebensentwürfen und gelebter Realität liegt. So heißt es in der Kurzgeschichte Die Kassiererin: „Ich bin hier sehr anders, aber nicht so, wie ich es mir gewünscht habe“
Anthologien wie Wir neuen Europäer sind wichtig, damit Texte nicht in Vergessenheit geraten. Sie sind wichtig, damit Texte von alten und neuen Leser*innen weiter und wieder gelesen werden. Und sie sind wichtig, um nachfolgende Generationen an die Errungenschaften derer, die vor ihnen tätig waren und nach wie vor sind, zu erinnern:
Wir sind nicht allein. Wir hatten und haben eine Stimme. Jeder Text, der nicht über, sondern aus einer Position migrantischer Erfahrung heraus spricht, ist wichtig.
Es kann nicht genug davon geben, alte und neue. Gerade Geschichten und Repräsentationen migrantischer Arbeiter*innen der ersten Generation, wie Ören sie bietet, werden noch viel zu oft aus externen Perspektiven heraus erzählt und produziert. Hier gilt es, weiterhin und vermehrt Selbstdarstellungen aufzufinden, zu archivieren und neue Autor*innen zu ermutigen, ihre Stimme zu finden und mit der Öffentlichkeit zu teilen.
Neue, alte Stimmen
Wir neuen Europäer schlägt am Ende folgerichtig eine Brücke zu den Anfängen von Örens literarischer Verarbeitung migrantischer Erfahrungen mit einer kurzen Reihe türkischsprachiger Gedichte aus dem Jahr 1965, also vier Jahre nach dem Beginn des Anwerbeabkommens zwischen der Türkei und Deutschland. Hier heißt es in Gurbet Türküsü (dt. Lied von dem Land der Lohnarbeit, in das eingewandert wurde, fern der gebürtigen familiären Heimat):
„Göç yolları tıkadı
bir başka yerde yeniden olmak için.
Hoy, hoy, hoy.
Fatma kadın-bahtsız kadın
dizinde bir yeni Mustafa yeni yarınlara
ninni söyler ve ötede uzanır da uzanır
bir uzun bozkır…“ (204)
In all ihrer melodiösen Melancholie fangen diese Zeilen für mich ein, welche menschliche Eigenschaft, Sehnsucht und Hoffnung jeder Göç (dt. Auswanderung) auch zugrunde liegen: Neugier, der Wunsch nach Neuem und die Hoffnung darauf, dass das Neue auch gut sein möge. Nichts, aber auch gar nichts daran ist mir fremd.
Was heißt hier „Wunder“?
Meine Eltern emigrierten in den frühen Siebzigerjahren von der Türkei nach Süddeutschland. Als in Deutschland geborenes Gastarbeiterkind bin ich sowohl auf meine migrantischen Wurzeln als auch die in der Arbeiterklasse stolz. Lange Zeit verschleierten mehrheitsgesellschaftliche Begriffe wie „deutsches Wirtschaftswunder“ die volkswirtschaftlichen und kulturellen Effekte der Arbeits-, Kauf- und Lebenskraft der über 800.000 türkeistämmigen Menschen, die zur Zeit des Anwerbestopps 1973 in Deutschland lebten, arbeiteten, liebten, feierten, konsumierten, Steuern abführten, Krankenkassenbeiträge entrichteten, in Rentenkassen einzahlten – und hier neue Wurzeln schlugen. Örens Texte erinnern an die harte Arbeit aller neuen Europäer*innen der ersten Generation, physisch und psychisch, die das ermöglicht hat.
Über den Autor:
1939 in Istanbul geboren. Arbeit als Schriftsteller, Schauspieler, Dramaturg und Redakteur. Seit 1969 dauerhaft in Berlin lebend. Preisträger des Adelbert-von-Chamisso-Preises 1985. Eine über Jahrzehnte andauernde literarische Auseinandersetzung mit Fragen zu Migration, Heimat und Fremde, Lohnarbeit im Kapitalismus, Weiblichkeit und Männlichkeit, gegen- und wechselseitigen Phantasien und Projektionen, Sehnsucht und Melancholie, kultureller Identität und Veränderung. Zur Veröffentlichung seines Buches Wir neuen Europäer trafen wir Aras Ören bereits 2017 und sprachen mit ihm über das künstlerische und politische Berlin der Sechzigerjahre, Arbeits- und Lebensbedingungen türkeistämmiger Arbeiter*innen in den Siebzigern und seitdem bestehende deutsch-türkische Beziehungen.
Höchste Zeit also Wir neuen Europäer bei kitap mitap zu lesen! Das Lesebuch erschien 2017 im Berliner Verbrecher Verlag.
Text: Ahu Tanrısever
Autorenporträt: Nane Diehl