Dêq, so werden im Kurdischen die traditionellen Tätowierungen genannt, die vor allem die Körper von Frauen zieren. Ein Brauch, der eine tiefgreifende Verewigung von Geschichte auf der Haut darstellt. Den verschiedenen Symbolen wurden Wirkungen nachgesagt, wie der Schutz vor Bösem, das Verleihen von Stärke oder Fruchtbarkeit. Neben Kurd:innen praktizierten unter anderem die Zaza und Jesid:innen diesen Brauch.
Die Tradition lässt sich auf vorislamische Zeiten zurückverfolgen.
Sonne, Mond und Sterne
Dêq wurde traditionell mit drei bis sieben fest zusammengebundenen Nadeln gestochen.
Bei den Tätowierungen handelt es sich häufig um naturverbundene Motive. Sie erinnern an vereinfachte Darstellungen von Sonne, Mond und Sterne, der Pflanzen- und der Tierwelt. Dabei haben die Motive einen sehr linearen, fast schon geometrischen Stil. Zudem sind die Symbole nicht nur auf der Haut, sondern auch in der Architektur, auf Grabsteinen, in Teppichen oder Stickereien zu finden. Die Menschen glaubten, dass Dêq sie vor Krankheiten und bösen Blicken (nazar) schützt und dass es ihnen Schönheit, Fruchtbarkeit oder Stärke verleiht. Die Motive schmücken den Körper nicht nur, sondern drücken die Wünsche, das Verlangen und damit auch die Charaktere der Menschen aus.
Wie dieser Brauch entstanden ist, ist nicht bekannt. Es wird jedoch vermutet, dass ein Nomadenvolk, die Karaçiler, die Tätowierungen einführte. Sie zogen singend und tanzend von Dorf zu Dorf und nahmen im Gegenzug für die Tätowierungen Geld, Kleidung oder Essen.
Hauptsächlich Frauen übten den Beruf der Tätowiererin aus und wurden Dekkake genannt. Die weiblichen Tätowierten wurden als Medkuke und die männlichen als Medkuk bezeichnet.
Nachdem sich die Person ein Motiv ausgesucht hatte, wurde es auf der Haut vorgezeichnet. Mit einem Gemisch aus Ruß und Muttermilch wurden dann mit drei, fünf oder sieben fest zusammengebundenen Nadeln die Tätowierungen gestochen. Es wurde dabei die Muttermilch einer Mutter, welche ein Mädchen gebar, verwendet. Man glaubte, dass besonders diese Milch durch ihren höheren Fettgehalt für eine längere Haltbarkeit der Tätowierung sorge. Die meisten jungen Frauen und Männer ließen sich im Frühling tätowieren, da die Tätowierungen in den kalten Jahreszeiten durch die geringere Durchblutung der Haut schlechter verheilen würden.
Es gibt unzählige Symbole mit vielschichtigen Bedeutungen. Die Sonne ist eines davon. Oft wurde sie zwischen den Augenbrauen oder auf den Händen verewigt. Sie sollte, so sagt man, das Leben der Person erleuchten und den Körper mit Licht durchfluten. Außerdem den Tätowierten Stärke und Hoffnung verleihen.
Faszinierend ist auch die Darstellung der Sonne mit neun Punkten. Tätowiert an der rechten Schläfe, stellte sie die Person nach außen hellhörig, aufmerksam und intelligent dar.
Aus praktischen Gründen ließen sich Frauen sich auch ihren Schmuck tätowieren. Denn es kam vor, dass sie bei der Feldarbeit ihre Schmuckstücke verloren und sich deshalb für das Tätowieren von Fußketten, Kämmen oder Anstecknadeln entschieden. Verzierende Elemente wie Sonne, Mond, Sterne und Blumen bestärkten dabei die Schönheit des Körpers.
Die Gazelle sollte eine Anziehung des anderen Geschlechts bewirken. Sogar Glück in der Ehe und Attraktivität versprach sie. Häufig wurde diese möglicherweise ein Liebesbeweis, den nur die geliebte Person sehen konnte.
Tattoos als Heilmittel
Die Symbole sollten nicht nur bestimmte Wünsche erfüllen, sondern auch Schmerzen bekämpfen. Wie beispielsweise die Kornähre am Handgelenk gegen Schmerzen beim Melken oder bei der harten Feldarbeit. Zusätzlich versprach sie den Menschen Segen, Fruchtbarkeit und Wohlstand.
Bei der starken körperlichen Arbeit auf dem Land, bei der es auch um Schnelligkeit ging, half der Tausendfüßler. Die Tätowierten trugen ihn am Fußgelenk und glaubten, damit problemlos in der Lage zu sein, schwere Arbeiten erledigen zu können.
Darüber hinaus lauerten in den trockenen Landschaften Anatoliens und Mesopotamiens viele Gefahren durch giftige Pflanzen und Kleintiere. Der Skorpion, der Käfer und die Blume bewahrten die Menschen vor dem Gift jener. Aber auch der Schutz gegen Nazar – die bösen Blicke – darf nicht fehlen und wurde durch das Auge gegeben.
Die Tätowierungen behandelten nicht nur irdische Themen mit ihren Motiven, sondern auch überirdische. Beispielsweise die Verbindung von Himmel und Erde durch den Baum des Lebens. Dieser entspringt der Erde, strebt gen Himmel, streckt seine Äste in alle Richtungen und symbolisiert Lebenskraft und Unsterblichkeit. Auch das Kreuzmotiv galt als Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits und wurde häufig verwendet.
Sünde im Islam
Heutzutage sieht man Dêq seltener, da Tätowierungen im Islam häufig als Sünde angesehen werden. In der Zeit, in der der Brauch ausgeübt wurde, schien dieser Glaube keine allzu große und strenge Rolle zu spielen. Es war verbreitet, dass diese Annahme sich damals auf den Ramadan und das Zucker- und Opferfest beschränkte. Durch diesen Wandel lassen sich einige ihre Tätowierungen mittlerweile aus Scham weglasern oder versuchen sie zu verstecken.
Wie so viele Bräuche geraten die Dêq mancherorts in Vergessenheit. Doch die jüngeren Generationen scheinen sie wieder für sich zu entdecken, und drücken mit ihnen einen Stolz für ihre Geschichte und Kultur aus. Zum Beispiel trägt auch die kurdische Künstlerin Zehra Doğan ein Dêq unter ihrer Lippe.
Credits
Text: Selin Bahar Sarikaya
Fotos: Ali Şekeroğlu