Zwischen Gegenwartsbewältigung und Geschichte

Ein Interview mit Max Czollek

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Max Czollek ist Essayist, Lyriker und Mitherausgeber der Zeitschrift Jalta – Positionen zur Jüdischen Gegenwart. Zuletzt erschien sein neues Buch Gegenwartsbewältigung im Hanser Verlag. Zudem ist er Mitorganisator der Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur am Maxim-Gorki-Theater. Wir nutzten die Gelegenheit, mit ihm über radikale Vielfalt, Gegenwart und Antifaschismus zu sprechen. 

Lieber Max, Gegenwartsbewältigung heißt dein neues Buch. Klingt sehr akut. Ist das der Versuch einer Debattenintervention und wenn ja, welcher?

Ich würde sagen, wenn ich politische Essays schreibe, dann geht es mir um eine Poetik der radikalen Gegenwärtigkeit. Also der Versuch nicht Dinge zu schaffen, die noch in 100 Jahren eine Rolle spielen, sondern die genau jetzt in diesem Moment relevant sind und hoffentlich in 10 Jahren keine Rolle mehr spielen werden. Wie toll wäre es beispielsweise, wenn man in 10 Jahren fragt: „Äh, Desintegration, was war denn das Problem mit Integration?“. Und genauso fragt man sich hoffentlich über die jüdisch-muslimische Leitkultur: „Was für ein komischer Begriff ‚Leitkultur‘ doch ist, wer würde denn jemals so etwas sagen…“. Gegenwartsbewältigung ist also eine Intervention in das Hier und Jetzt. Gleichzeitig schwingt in dem Begriff ja auch die Vergangenheitsbewältigung mit, nämlich die Frage, auf welche Weise die Vergangenheit uns in der Gegenwart nicht loslässt und uns vor spezifische Probleme stellt.

„Gegenwartsbewältigung ist also eine Intervention in das Hier und Jetzt.“

links: Autor des Interviews: Mahir Türkmen | rechts: Max Czollek

Kurz nach dem Erscheinen deines Buches ist auch das neue Buch von Sarrazin veröffentlich worden. Ist das momentan diese gesellschaftliche Gleichzeitigkeit von progressiven und rückschrittlichen Bewegungen und Gedanken? 

Natürlich ist das nicht zufällig, dass jemand wie Sarrazin zeitgleich seine neorassistischen, neovölkischen Vorstellungen davon vermittelt, wer zur Gesellschaft gehört und wer nicht. Daran kann man etwas über die verhängnisvolle Verklammerung beider Perspektiven lernen. Denn der Antirassismus reagiert ja auf den Rassismus und der Rassismus reagiert auf den Antirassismus – Integration und Desintegration, deutsche Leitkultur, jüdisch-muslimische Leitkultur, etc. Vielleicht ist das eine der grundlegenderen Schwierigkeiten bei der Überwindung des Rassismus, dass wir in so einer Art Reiz-Reaktion-Verhalten gefangen sind. Es wäre wichtig, diese Verklammerungen irgendwie zu lösen – nicht als Abkehr von der Realität, sondern als ihre Überschreitung.

 

 

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Überwindung von Rassismus hat auch was mit unserer Vorstellung von politischen Extremen zu tun. Dazu schreibst du in deinem Buch, dass die Gleichsetzung der Gefährlichkeit von Links- und Rechtsextremismus typisch für eine bestimmte politische Perspektive ist. Wie zeigt sich das Problem und was ist möglicherweise die Ursache dafür?

Dieses Jahr sind ja deutlich mehr Dinge passiert als nur die ganze „Corona-Geschichte“, die alles andere zurzeit ein wenig überdeckt. Anfang Februar etwa fand das Debakel um Thomas Kemmerich und die moralische Bankrotterklärung der FDP statt. Zur Erinnerung: Kemmerich war als FDP-Kandidat mit 5,001% der Wähler*innen Stimmen in den Thüringer Landtag eingezogen und ließ sich anschließend mit Hilfe der Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen. Dahinter stand die Argumentation, man dürfe nicht zulassen, dass ein Kandidat der Linkspartei noch einmal Ministerpräsident wird. Und warum? – Weil links so schlimm ist wie rechts! Das klingt völlig durchgeknallt, ist aber wirklich die Perspektive vieler Menschen in diesem Land, die sich selbst als bürgerliche Mitte bezeichnen. Wenn diese bürgerliche Mitte sich aber lieber von den völkisch Rechten unter der Führung eines erwiesenermaßen faschistischen Kandidaten wie Björn Höcke wählen lässt, als jemanden wie Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten zu machen, dann ist die Idee der bürgerlichen Mitte eine Gefahr für die Demokratie. Denn sie ist nicht mehr in der Lage zu erfassen, was die größte Bedrohung für die plurale Gesellschaft ist. Und diese Bedrohung zeigte sich nur zwei Wochen nach der Wahl Kemmerichs beim Anschlag von Hanau. Wenn man also auf die Gesellschaft schaut, als wäre links und rechts gleich schlimm, dann ist man überhaupt nicht mehr in der Lage zu verstehen, dass die größte Bedrohung, die derzeit für die Demokratie existiert, nicht von Linken ausgeht, sondern von einer völkischen Rechten, die ja nicht nur Politik macht und Bücher schreibt, sondern auch mordet.

Dann ist anscheinend die bürgerliche Mitte das Problem? Woran liegt das deiner Meinung nach, und wie können wir das ändern?

Ein historischer Ausflug kann einem da schon Indizien liefern. Die Wurzeln für die Fantasie von der bürgerlichen Mitte liegen vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland. 1945 stellte sich für beide Deutschländer ja zunächst ein ähnliches Problem: Wie schafft man eine Demokratie mit einer Gesellschaft, die mehrheitlich bis zum bitteren Ende die Nazis unterstützt hatte? Um diese Frage zu beantworten, braucht es eine Faschismustheorie, die einem erklärt, warum so etwas wie der Faschismus oder Nationalsozialismus in Deutschland überhaupt erfolgreich war. West- und Ostdeutschland hatten sehr unterschiedliche Antworten darauf und wählten nicht zuletzt darum auch unterschiedliche politische Strategien. Während Ostdeutschland ein kämpferisches Verständnis von Antifaschismus hatte, welches die politischen Anführer aus ihrer eigenen Widerstandsgeschichte gewonnen hatten, entwickelte sich in Westdeutschland eine ganz andere Vorstellung davon, was Faschismus begründet. Das klingt jetzt vielleicht kurios, aber die westdeutsche Erzählung lautet: Faschismus entsteht, wenn eine Gesellschaft gleichermaßen zu links und zu rechts ist. Was man braucht, ist daher eine mehr oder weniger apolitische bürgerliche Mitte, die sich gegen alle Extremen gleichermaßen zur Wehr setzt. Heute sehen wir, dass diese westdeutsche Erzählung, die nach dem Mauerfall für Gesamtdeutschland  dominant wurde, nicht in der Lage ist, neovölkische Politik effektiv zu bekämpfen. Und weil das so ist, brauchen wir neue Konzepte für die plurale Demokratie. Da schlage ich unter anderem die Entwicklung eines postmigrantischen Antifaschismus vor. Also eines Antifaschismus, der sich gleichermaßen bewusst ist, dass die Gesellschaft, in der wir leben, eine postnationalsozialistische Gesellschaft ist. Aber auch, dass sie eine andere geworden ist. Nämlich eine der radikalen Vielfalt, die Migration als Faktum mitdenken muss. Das zusammen zu denken, scheint mir vielversprechend, weil es kämpferischer ist und weil man so davon ausgeht, dass die plurale Demokratie in Deutschland nach 1945 nur dann existieren kann, wenn sie eine klare Linie zum Faschismus zieht.

Konkret heißt es, mehr in Allianzen zu denken und die radikale Vielfalt der Gesellschaft miteinzubeziehen. Darüber hinaus hast du dieser Gesellschaft einen ernsthaft fehlenden Antifaschismus attestiert. Gehört demnach Antifaschismus eigentlich als Lehrinhalt an die Schulen oder zumindest in die politische Bildungsarbeit?

Absolut. Mir ist völlig unklar, wofür Deutschland noch nach 1945 existiert, wenn es nicht antifaschistisch ist. Und so habe ich auch das Konzept der wehrhaften Demokratie immer verstanden. Auf der anderen Seite merken wir doch, dass die politischen Konzepte derzeit nicht hinterherkommen. Und zwar nicht nur, was die bürgerliche Mitte angeht, sondern auch Konzepte wie Leitkultur oder Integration, bei denen die Vielfalt der pluralen Demokratie als zentrales Problem aufscheint. Das Denken der Leitkultur und Integration behauptet, dass Menschen sich integrieren müssen, damit Gesellschaft funktioniert. Dagegen würde ich sagen, eine plurale Demokratie darf Vielfalt nicht als zentrales Problem, sondern muss sie als ihre Grundlage verstehen. Ein solches Umdenken würde eine Verschiebung bedeuten, einen wirklichen Paradigmenwechsel. Und ich möchte behaupten, dass dieser Paradigmenwechsel künstlerisch und zivilgesellschaftlich bereits vollzogen wird – es sind die politischen Konzepte, die nicht hinterherkommen. Die Pointe ist doch: es existiert schon diese andere, radikal vielfältige Gesellschaft. Und die Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur, die Neuen Deutschen Organisationen, ein Magazin wie renk. sind der Beweis.

„…eine plurale Demokratie darf Vielfalt nicht als zentrales Problem, sondern muss sie als ihre Grundlage verstehen.“

Dieses Jahr ist neben den benannten rechtsextremen Attentaten und Rechtsentwicklungen noch ein anderes denkwürdiges Jubiläum. Deutschland feiert 30 Jahre Wiedervereinigung. Wie ist deine persönliche Bilanz als Jude, der noch in der DDR geboren ist?

Der Begriff der Wiedervereinigung bedeutet doch, dass zwei Teile zusammengeführt werden, die vermeintlich zusammengehörten. Und das bezieht sich nicht nur auf zwei Territorien, sondern auch auf das „deutsche Volk“. Diese Art ethnozentrischen Gedenkens bedeutet den Ausschluss vieler Menschen in dieser Gesellschaft, für die 1990 eben kein Anlass zum Jubel bedeutete und die nicht zu diesem Volk dazugezählt wurden und werden. Angesichts der Erfahrungen von Ausgrenzung und rechter Gewalt, aber auch angesichts der pluralen Gesellschaft, ist es ein echtes Problem, weiterhin von so etwas wie Wiedervereinigung zu sprechen, als wären die gesamtdeutschen Gewaltexzesse der 90er Jahre, der Asylkompromiss, der NSU und Hanau nie passiert.  Die Erzählung von der glücklichen Wiedervereinigung lässt keinen Platz für afrodeutsche Perspektiven, für türkeistämmige Perspektiven, jüdische Perspektiven, die Perspektiven von Sinti*zze und Rom*nja und vielen mehr. Weil sich das ändern muss, haben wir dieses Jahr die Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur (TdJML) ausgerufen. Damit wollen wir die radikale Vielfalt der Perspektiven sichtbar machen, die heute diese Gesellschaft gestalten – und unterstreichen, dass Kunst und Aktivismus hier eng zusammenarbeiten. Die Events haben im gesamten deutschsprachigen Raum in 12 Städten mit über 30 Veranstaltungen und 80 beteiligten Künstler*innen stattgefunden.

Dieses Netzwerk zusammen mit einem überwältigenden Medienecho beweist, dass es sich bei unserer Kritik an einer deutschen Dominanzkultur eben nicht um eine Nischendiskussion handelt. Sondern um eine Diskussion, die für viele Menschen eine große Relevanz besitzt. Die Frage nach einer anderen Erzählung von den Gesellschaften, in denen wir leben, gehört zu den wichtigen Dingen, mit denen wir uns die kommenden Jahre befassen müssen. Und wer sollte das tun, wenn nicht wir? Darum lautet das Motto der TdJML auch: Aus der Bubble in die Charts.

Eyvallah Max, danke für das schöne Interview.

Hier das komplette Video: Das beste Abendmahl – aus der Bubble in die Charts

Fotografie: Michael Kuchinke-Hofer

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