Der Eine oder die Andere hat beim Titel wahrscheinlich zweimal hingeschaut und kurz überlegt, ob es das Wort „Heimat“ überhaupt im Plural gibt. Ja gibt es, wird aber äußerst selten genutzt, weil die Heimat eines Menschen nur ein Ort sein kann, nimmt man an. Der Duden definiert Heimat als „Land, Landesteil oder Ort, in dem man [geboren und] aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt (oft als gefühlsbetonter Ausdruck enger Verbundenheit gegenüber einer bestimmten Gegend)“.
Für ein Kind, dessen Eltern als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind, ist es selten einfach, die Frage nach der Heimat zu beantworten. „Memleket neresi? Wo ist deine Heimat?“ fragen sie dich ständig, ob in Deutschland oder in der Türkei. Ich bin so ein Gastarbeiterkind. Meine Eltern sind in den siebziger Jahren nach Deutschland gezogen, eigentlich nur um ein paar Jahre hier zu arbeiten und dann wieder zurück in die Türkei zu gehen. Sie leben jedoch heute immer noch in Deutschland und es ist – haltet euch fest – ihre neue Heimat. Denn hier leben sie seit über vierzig Jahren und fühlen sich pudelwohl. Wenn ich meinen Vater frage, ob er denn nicht in die Türkei zurückwolle, jetzt, wo er doch Rentner sei, sagt er: „Bin ich denn bekloppt? Ist mir viel zu chaotisch dort, hier ist es viel schöner!“
Fragen über Fragen
Als Kind wurde ich oft gefragt: „Magst du lieber die Türkei oder Deutschland?“ Eine, die mir diese Frage jedes Jahr aufs Neue stellte, war meine Oma, die in Istanbul lebte. Wie viele Gastarbeiterfamilien fuhren auch wir jedes Jahr mit dem Auto in die Türkei in die Sommerferien, für fünf, wenn nicht sogar sechs Wochen. Und je nach meiner Laune dort fiel meine Antwort so oder so aus. Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich, wenn ich genervt von meiner Oma war und sie ärgern wollte, sagte, ich möge Deutschland lieber. Ich war übrigens süße sechs Jahre alt, in dem Alter testet man ja gerne die Grenzen und Gefühle der Erwachsenen aus. Meine Oma war eine eher ruhige Frau und sagte immer sehr bestimmt: „Kann sein, dass Deutschland dir besser gefällt, aber vergiss nie, dass die Türkei deine Heimat ist.“ Ach ja, und wieso? Ich war doch in Deutschland geboren und ging dort zur Schule und die Türkei kannte ich bloß aus den Sommerferien. Die Bestimmtheit in der Stimme meiner Oma machte mich wütend. Wie konnte sie entscheiden, wo meine Heimat war? Musste ich das nicht selbst bestimmen?
Solche Gedanken mit sechs Jahren können schon verwirrend sein. Im Laufe der Zeit wurde es allerdings noch komplizierter. Ich hatte ja keine Ahnung, dass mir diese Frage ständig gestellt werden würde. Schulfreunde, der erste Freund, der erste Chef, Studienkollegen, alle fragten ziemlich bald nach dem ersten Kennenlernen, wo denn meine Heimat sei. „Ich bin Deutsche mit türkischen Wurzeln“, holte ich oft aus. Darauf folgte dann aber sofort die zweite Frage, die noch irritierender war als die Erste: „Ah okay, dann bist du ja eigentlich in der Türkei zu Hause. Willst du nicht wieder zurück in die Heimat?“
„Ähm. Wie meinst du das jetzt? Wohin soll ich gehen?“
Wie konnte meine Großmutter entscheiden, wo meine Heimat war? Musste ich das nicht selbst bestimmen?
Heimat oder Kulturschock?
Ich hatte noch nie in der Türkei gelebt. Trotzdem nahmen die Fragenden an, dass ich mich gerade hier und jetzt eben nicht in meiner Heimat befand. Hatte Oma recht gehabt? Aber wie konnte denn ein Land meine Heimat sein, das ich nur aus den Ferien kannte? Ich wollte es wissen. Und zog direkt nach dem Studium nach Izmir. Ich wählte die Stadt nicht ohne Hintergedanken aus: Izmir gilt nach wie vor als die modernste und offenste Stadt in der Türkei. Keine Überforderung, bitte. Ich wollte mich langsam an meine „Heimat“ herantasten, ohne einen Kulturschock zu erleben. Eine ziemlich „deutsche“ Einstellung, findet ihr nicht?
Sehr schnell war ich vom Alltag überfordert: Die Jobsuche gestaltete sich eher problematisch, in den Vorstellungsgesprächen konnte ich mich kaum ausdrücken, ich kannte ja nur die Umgangssprache und konnte leider nicht mit „Businesstalk“ glänzen. Oft wurde ich belächelt. Ob ich denn wirklich hier arbeiten und leben wolle? Ich wäre doch Deutsche und könnte kaum Türkisch. Und überhaupt, ob ich wirklich glauben würde, hier zurecht zu kommen? Mein erster Arbeitgeber rief sogar heimlich meine Eltern an, um zu fragen, ob sie wüssten, dass ich gerade in Izmir war und einen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte. Ich kündigte gleich am nächsten Tag.
Auch die Behördengänge waren eine halbe Katastrophe. Mit meinem deutschen Pass musste ich statt eines einzigen Formulars gefühlte zehn ausfüllen und zwar in verschiedenen Behörden, eine Arbeit, die Tage in Anspruch nahm. Dabei hatte ich doch gerade deswegen, um diese bürokratischen Schwierigkeiten zu umgehen, die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt. Damit ich in der Uni nicht immer in der langen Schlange am „Ausländersekretariat“ warten musste. Nun hatte ich den deutschen Pass in der Türkei und alles war noch viel schlimmer. Ironie des Schicksals? Wahrscheinlich schon.
Endlich eine Antwort
Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten verbrachte ich tolle vier Jahre in Izmir. Nach einem halben Jahr konnte ich perfekt Türkisch, fand einen tollen Job und den besten Chef, der mir immer zur Seite stand, wenn ich es nicht so leicht hatte. Ich habe mich an gewisse Umstände gewöhnen müssen, dafür gab es aber auch unzählig viele Besonderheiten, die ich zu schätzen und zu lieben lernte. Sei es die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Menschen, die warme Luft und die kurzen Wege ans Meer, die Lebenslust, die man auf den Straßen spürt.
Ab und an gab es aber auch Momente, in denen ich Deutschland vermisste. Aber war es tatsächlich das Land, das ich vermisste oder waren es die Menschen dort, meine Familie und meine Freunde? Das wusste ich dann besser, als ich nach einem Jahr wieder in Köln war und Tränen vergoss, als ich die Domspitze sah.
Die Zeit in der Türkei hat mich gelehrt, dass man auch mehrere Heimaten haben kann. Endlich konnte ich Omas Frage beantworten: Ich liebe beide Orte, Oma, sie sind beide meine Heimaten. Es ist so, als ob man fragen würde, ob ich Mama oder Papa lieber habe und wer von den beiden denn meine Eltern wären. Nur beide gemeinsam sind meine Eltern. So ist es auch mit meinen Heimaten. Ich liebe sie beide und fühle mich an beiden Orten zu Hause und wohl. Und genau das macht mich aus und darüber bin ich verdammt froh und glücklich!
Übrigens, seit fast sieben Jahren lebe ich in der Schweiz und dreimal dürft ihr raten, welche Frage ich schon zigmal gestellt bekommen habe. Genau: „Wo hesch es liebr? Dütschland, Türkey oder hie in dr schöni Schwiiz?“
Na ja, zum Glück hab’ ich noch Platz in meinem Herzen für eine weitere Heimat.
Text: Esra Yiğit
Fotos: Francisco Moreno on Unsplash