Wie „Weiß“ ist das Theater?

Im Gespräch mit der Theaterregisseurin Selen Kara

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Während draußen die weißen Schneeberge der vergangenen Tage schmelzen, treffe ich mich im publikumsleeren Bochumer Schauspielhaus mit Selen Kara. Eine Ausnahme, denn wir wollen schließlich Fotos von ihr an ihrem ersten Wirkungsort machen. Selen ist Theaterregisseurin und hat, seit ihre Karriere 2014 als Regisseurin in Bochum begann, schon einige bedeutende Stücke deutschlandweit inszeniert.

Ihre Vision von der Theaterwelt ist ganz klar: Mehr Diversität in einer von ´weißen heteronormativen Männern´ dominierten Welt. Mit Stücken wie Ellbogen, Träum weiter oder dem legendären Liederabend Istanbul schafft sie Dialoge. Wichtige Dialoge, denn die Welt abseits der Realität hinter dem Vorhang ist stehen geblieben. Während das Theater früher als Spiegel der Gesellschaft galt, ist es heute eine Zeitreise in die Vergangenheit. Weit entfernt von den verschiedenen kulturellen Herausforderungen abseits der tollen und prunkvollen Institutionen einer jeden Stadt.

Die Frage ist doch, für wen machen wir eigentlich die aufwendigen Inszenierungen, die jahrelang in Dauerschleife die Kulturprogramme zieren? Der Steuerzahler hat sich über die Jahre verändert, aber wie sieht es mit den Theaterabonnementen aus?

Die Notwendigkeit der Vielfalt ist zwar bei den meisten Theatern angekommen, aber gleichzeitig ist das Publikum immer noch das weiße Bildungsbürgertum

Selen erzählt von Shermin Langhoff als Intendantin am Gorki und natürlich von Julia Wissert in Dortmund, die mit der Spielzeit 2020/2021 ihr Amt als erste Schwarze Theaterintendantin antritt. „Erst seit einem Jahr gibt es beim Theatertreffen in Berlin eine Frauenquote! Es bewegt sich etwas, aber wir müssen weiter daran arbeiten, dass der Begriff Diversität bald nicht mehr benötigt wird, dass es selbstverständlich wird, dass z.B. Frauen Stoffe auf großen Bühnen inszenieren, die sie interessieren und dass das Theater ein reales Bild der Gesellschaft spiegelt.“

Wie sieht eigentlich dein Romeo aus, oder deine Julia? Ist einer vielleicht schwarz oder trans?
„Diversität ist nicht umgesetzt, wenn das Ensemble zwei POC SchauspielerInnen engagiert, um damit auszusagen, dass man Wert auf Diversität legt. Die Gesellschaft hat sich über die letzten Jahre verändert, diese Veränderung müssen sich in den aktuellen Debatten, sowohl auf als auch hinter der Bühne, wiederfinden. Dazu zählt neben dem Ensemble auch die Zusammenstellung der Regieteams, die Auswahl der Themen und die Aufbereitung dieser. “
Das Publikum ist weiß und bisher gibt es auch nur wenig Bestrebung, das zu ändern. Selen hat dazu eine klare Meinung: „Es geht vielmehr darum mit traditionellen Rollenzuweisungen zu brechen und Sehgewohnheiten zu ändern. Werbung über alle Kanäle und für jede Zielgruppe erreichbar zu platzieren, um so den Zugang zum Theater zu erweitern“
Mit dem Liederabend Istanbul mit Songs von Sezen Aksu hat Selen 2015 eine Veränderung bewirkt. Und auch wenn man mit einem Liederabend nicht zum Berliner Theatertreffen fährt, war es ein voller Erfolg in puncto Austausch. Ein Wirtschaftswunder in Istanbul bringt deutsche GastarbeiterInnen zur Auswanderung. Die Anfragen für die Inszenierung häuften sich, noch heute fragen Häuser einen zweiten Teil an. „Ich möchte nicht nur für Türkeithemen angesprochen werden, ich bin schließlich nicht die Türkeibeauftragte. Istanbul war ein Abend, der mal gemacht werden musste, weil die Geschichte ein Perspektivwechsel darstellt. Mittlerweile suche ich mir die Themen selbst aus!“

Mit der Theaterbesetzung versuchen wir ein Bild in den Köpfen der Zuschauer zu erzeugen, warum muss das immer weiß sein?
„Vor fünf Jahren haben deutsche SchauspielerInnen türkische Lieder von Sezen Aksu gesungen, weil das Ensemble keine POC SchauspielerInnen hergab. Heute blicke ich darauf zurück und finde es genauso passend, als würde ein schwarzer Schauspieler Romeo spielen. Bei dem Stück Ellbogen habe ich mich für Almila Bağrıaçık als Hauptfigur stark gemacht, sie wurde dann als Gast engagiert. Ellbogen fand damals auf der großen Bühne statt, das war ein bedeutender Schritt, der gezeigt hat, dass die Entwicklungen in die richtige Richtung gehen. Der Bedarf ist ganz klar, aber die Umsetzung muss noch ausreifen. Wir müssen endlich dahin kommen, dass jede*r alles spielen darf und das Stücke wie Ellbogen oder Träum weiter eine große Bühne bekommen und nicht Nischenthemen bleiben.“
Wir finden gerade eine beeindruckende Entwicklung in der Bevölkerung vor. Menschen, die sich nach Jahrzehnten outen, sich trauen laut auszusprechen, dass sie trans, queer oder non binary sind, dies kann man wunderbar durch die Theaterkunst begleiten und Sprachrohr sein.

„Diversität bedeutet nicht nur, Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen anzusprechen, sondern das Theater für ALLE zu öffnen. Mehr Diversität im und am Theater meint auch Weltanschauung, Genderidentitäten und physische Fähigkeiten.“

In Selens neuem Stück „Mit anderen Augen“ geht es um das Thema Blindheit. Das hat sie gemeinsam mit dem Theatermusiker Torsten Kindermann für das Bochumer Schauspielhaus entwickelt. Ein musikalischer Abend für Sehende und Nichtsehende Menschen der, sobald es wieder möglich ist, Premiere feiert.
„Ich schätze es dauert noch ein paar Jahre, bis diese Veränderungen nachhaltig angekommen sind. Was es dafür braucht? Vielfalt in allen Bereichen und vor allem in der Führungsetage, denn nicht zuletzt die entscheidet über all das maßgeblich!“

Text und Fotos: Melissa Christov-Tanrıverdi

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