Plötzlich war ich erwachsen.

Huyền Nguyens Weg in die Kunst

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Vom Arbeiterkind zur…

Freien Künstlerin? Malerin? Designerin? “Nein! Auf keinen Fall. Mach’ etwas Anständiges. Geh’ zur Bank, werd’ Lehrerin, studier’ Jura. Con ơi, con phải kiếm được tiền!” Worte wie diese hallen noch heute in meinen Ohren nach. 

In der siebten Klasse gewann ich einen Kunst-Schulpreis im Sparkassen-Wettbewerb. 25 Euro erhielt ich und mir wurde ein mehrteiliges, buntes Faber-Castell-Malset geschenkt. Ich war stolz und sehr glücklich. Am Tag der Verleihung grinste ich neben anderen Kindern schüchtern in die Kamera. Mein Kunstwerk hing für eine Zeit lang in unserer Stadt-Sparkasse im Foyer, eingerahmt auf einer weißen Wand. Von klein auf malte ich gerne. Ich nahm Filz- und Buntstifte zur Hand, kreierte weite Landschaften, Menschen mit schwarzem Haar und rote Häuser. Es kamen Mangas mit großen Augen, ausgefallenen Kostümen, graffiti-ähnliche Poster und erste Mode-Entwürfe dazu – bis wir unseren Imbiss eröffneten. Đặc Sản hieß er, mit einem harten D und einem scharfen S, vietnamesisch für das Wort Spezialitäten. Rot umrandet und in gelber Schrift verziert, hing das Schild über unserem Imbiss in einer Seitenstraße des Marktplatzes meiner Heimatstadt, in der ich aufwuchs. Mit der Selbständigkeit meiner Eltern endete meine Hingabe zur Kunst, denn meine Freizeit abseits der Schule verbrachte ich ab sofort im Imbiss. Dort musste ich anfangen auszuhelfen… 

Und plötzlich musste ich erwachsen werden.

Rückblickend verschwimmen meine Erinnerungen aus dieser Zeit. Dunkel erinnere ich mich an ein paar Dinge: beispielsweise an die weiße, sportliche Polyester-Weste mit Stehkragen, die ich immer für die Arbeit trug. Oder den Geruch nach Frittierfett, welches nach einem langen Arbeitstag an meiner Kleidung haftete. Mit 12 oder 13 Jahren fing ich an bei meinem Bố im Imbiss zu arbeiten – selbstverständlich unbezahlt, ohne extra Taschengeld oder Ähnliches. Es gehörte einfach dazu. Für die Familie sich aufzuopfern. So wie es mir (und wahrscheinlich ihnen) beigebracht wurde. Morgens eröffnete mein Bố den Imbiss, abends kam meine Mẹ nach ihrem Job bei McDonald’s zum Aushelfen dazu. Mein Tag hingegen bestand aus Schule und danach hieß es: Gäste bedienen im Imbiss. Im Hinterraum machte ich meine Hausaufgaben und manchmal habe ich auch mit dem Fahrrad ausgeliefert. Es war anstrengend und oftmals sträubte ich mich auch dagegen, wollte viel lieber mit meinen Freundinnen in der Stadt abhängen, als hinter der Theke zu stehen. Ich erfand Ausreden und zögerte die Zeit bis zur Rückkehr in den Imbiss hinaus. Statt einer Stunde unterwegs-sein wurden es zwei, oder ich log, dass ich noch für eine Klassenarbeit am nächsten Tag lernen musste.

 

Zwei bis drei Jahre jonglierte meine Familie auf diese Weise ihr Leben, bis es zuviel wurde. Wir konnten es gemeinsam nicht mehr stemmen. Als Familienunternehmen zu dritt – mein Bruder war zu jung um mitzuhelfen – war die Arbeit nicht tragbar. Nach und nach vergraulte mein Bố zusätzlich einen Mitarbeiter nach dem anderen. Mit der Zeit wurde er zunehmend hitziger, meine Mẹ verlor die Geduld und während ich meine Teenagerjahre im Imbiss meiner Eltern aushelfend vorbeistreichen sah, hatte ich auch keine Lust mehr. Denn dauernd wurde ich auf meinem türkisenen Oldschool-Nokia-Handy sturm angerufen, sobald ich unterwegs war. Entweder, um aushelfen zu kommen oder um andere Dinge zu erledigen, um die mich meine Eltern baten: “Con ơi, kannst du das noch schnell übersetzen?” oder: “Con ơi, kannst du den Monat noch abrechnen?” So sehr ich eine gute Bindung zu unseren Kund*innen auch aufgebaut hatte – als meine Eltern Đặc Sản schlossen, fiel eine große Last von meinen Schultern. Die Fenster und Türen wurden von innen mit Zeitung beklebt und so verabschiedeten wir uns von unserem Imbiss. Ich weiß noch, wie ich am letzten Tag unsere Gäste mit Wehmut über unseren Entschluss informierte. 

Mein Weg zurück zur Kunst. 

Kurz nachdem meine Eltern ihren Imbiss aufgaben, wechselte ich nach der Mittleren Reife auf das Gymnasium in die Oberstufe. Endlich! Sechs volle Jahre lang wartete ich auf diesen Moment, denn auf meiner zweiten Grundschule – wohnungsbedingt musste ich meine alte Grundschule in der dritten Klasse verlassen – gingen meine schönen, guten Noten den Bach hinunter und ich musste mich nach einer Hauptschulempfehlung erst einmal auf der Realschule beweisen. In der vierten Klasse hatte ich nämlich eine grauenvolle Klassen- und Mathelehrerin, die mir Angst einjagte. Schule fiel mir extrem schwer und immer, wenn ich vietnamesisches Essen mitbrachte oder gar vietnamesische Kleidung trug, wurde ich gehänselt. Ich schämte mich für meine Eltern und unsere Kultur. In der alten Nachbarschaft hatten wir es einfacher und ein angenehmes Verhältnis zu den anderen Eltern und Lehrer*innen, hier in der Innenstadt war alles fremd und plötzlich saß ich neben Ärztekindern in der Schule.

Zurück zur Oberstufe. Weil Kunst immer noch mein Lieblingsfach war, entschied ich auf eine Schule zu wechseln, in der ich es als Leistungskurs wählen konnte. Ich fühlte mich unabhängig und langsam aber sicher fand ich wieder zu mir zurück. Neben der Herkunft, merkte ich auch früh, dass sich meine Lebensrealität von denen der weißen Mitschüler*innen stark unterscheidete. In ihrer Freizeit gingen sie zum Handball oder waren im Chor, in den Schulferien gingen sie Skifahren oder Zelten mit ihren Eltern. Meine Freizeit war geprägt von Leistungsdruck und Arbeit. Nicht nur gute Noten sollte ich abliefern, zu Hause musste ich meine Eltern unterstützen, wo ich konnte. Als große Schwester in einer migrantischen Familie ist das die Bürde. Meine Leidenschaft zur Kunst konnten meine Eltern nur bedingt nachvollziehen: 

Eine Woche vor Abgabe meiner Facharbeit hockte ich mit Kopfschmerzen auf dem Boden in meinem Zimmer und verzweifelte. Vor einem Haufen Zeitung, Goldpapier und Tackernadeln, entwarf ich ein Korsett, welches einfach nicht an der Schneiderpuppe halten wollte. Das Kleid war ein Upcycling-Projekt, das von Vivienne Westwood inspiriert war und den Konsum der Gesellschaft kritisierte. Meine Eltern verstanden meinen Frust nicht, aber da sie jeden Tag arbeiten waren, war es ihnen auch egal. Sie konnten auch nicht helfen. Aber auf dem Gymnasium gab es dafür eine Hand voll engagierter Lehrerinnen. Eine von ihnen war meine Klassen- und Kunstlehrerin Frau Neuer. Frau Neuer war Bildhauerin und kam als Quereinsteigerin in die Schule. Sie hatte Elan und viele Ideen. Sie förderte und glaubte an uns Schüler*innen. Einige Tage vor meiner Abgabe stand ich vor ihr und hielt einen Monolog darüber, warum ich nicht abgeben konnte. Zu schwer, zu viel, zu kompliziert. Sie dagegen lächelte nur und munterte mich auf: “Du gibst auf jeden Fall ab und kannst jetzt nicht aufgeben.” Sie glaubte an mich und so machte ich einige Nächte durch und schaffte letztendlich gerade so die Abgabefrist. Und all der Frust hat sich gelohnt: Zwölf Punkte erhielt ich auf meine Facharbeit. Es war ein Schritt näher zum Modedesign.

 

Trotz meiner Leidenschaft zur Kunst gab es keine Aussichten auf ein Studium in dem Bereich. Zu sehr hatten es mir meine Eltern in meinen Körper einverleibt: “Nein, keine Kunst, damit kannst du doch kein Geld verdienen.” Dieses Bild vermittelte auch der Kunstunterricht. Weiße Männer prägten vornehmlich die Kunstlandschaft. Ausschließlich weiße Männer wie Freud, Picasso und Warhol lernte ich kennen. Selbst Frau Neuer hatte die Freie Kunst an den Nagel gehängt. Weibliche Vorbilder? Fehlanzeige.

 

Eine von vielen oder eine von wenigen? 

Nach dem Abi und die Doppelbelastung durch die Schule und den Verantwortungen zu Hause, entschied ich mich, dem Doppelleben ein Ende zu setzen. Ich wollte raus. Clearly, raus aus meiner Familie und clearly, raus aus Deutschland. Ich entschied mich für ein Auslandsjahr in den USA. Dort angekommen war alles größer, breiter und schöner. Mehr Möglichkeiten und mehr Raum. Mehr Menschen und Gesichter, die so aussahen wie ich. Überall waren Menschen of Color, Schwarze und asiatische Menschen repräsentiert. Auf den Billboards, bei der Post, oder an der Uni. In New York gehört das zum alltäglichen Leben. Dort war und bin ich einfach Huyền, kein Alien, keine Ausländerin, keine Vietnamesin. Einfach nur Huyền.

Nach insgesamt fünf Jahren, einem Bachelorabschluss und zahlreichen Jobs und einem Burnout wollte ich 2018 eine Pause von NYC. Ich wollte zurück nach Deutschland und mich wieder dem kreativen Schaffen widmen. Was mich jedoch in Deutschland erwartete, war, anders als ich es in den letzten Jahren in den USA gewohnt war, sperrig und konservativ. Ich wollte schreiben, aber mein Deutsch war anscheinend nicht gut genug, meine Vorkenntnisse unbrauchbar. „Steif und floskelhaft“ bekam ich einmal von einem Redakteur als Rückmeldung zu meinem Textentwurf. Und immer hieß es, um schreiben zu können, käme ich um ein Volontariat oder eine Ausbildung auf der Journalistenschule nicht herum. Alle Wege zum Ziel schienen hürdenreich und steinig. Der Wunsch wieder in Deutschland Fuß zu fassen war niederschmetternd und ernüchternd. Und so begann ich mein Masterstudium in Berlin und taumelte schließlich von zahlreichen Studi-Jobs ins freie Autor*innenleben. Aber auch hier merkte ich schnell: Die Branche, in der ich mich befand, war alles andere als divers und offen, von der prekären Situation vieler freien Autor*innen ganz zu schweigen. Noch heute schwelge ich in NYC-Nostalgie, sehne mich nach dem safer space meiner Community auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans und den teils unbürokratischen Zugang zum Schreiben. Umgeben von motivierten Künstler*innen und Aktivist*innen schien alles machbar.

Ein Funke Hoffnung.

Ich erinnere mich wie ich im Dezember letzten Jahres eine Depression erlitt und viel Unmut verspürte. Alles, was ich anpackte, war verbunden mit Leistung. Nicht nur das Arbeiten und Lernen, sondern auch Aktivitäten wie Kochen, Waschen, und sogar mein Lieblingshobby das Laufen. Alles fühlte sich wie Arbeit an. Ich war erschöpft und stellte mehr und mehr Unlust fest. Ich konnte nicht mehr. Zur Weihnachtszeit inmitten der zweiten Pandemie-Welle kam mir eine Eingebung und eines Abends, ergriff ich nach Jahren Pinsel und Papier. Ich malte zum ersten Mal wieder und ich empfand immense Freude und Leichtigkeit. Malen, ganz ohne Druck und Ziel. Dazu Musik hören und Striche auf das Papier setzen.

 Einmal im Jahr rumort es in mir und ich frage mich: Was wäre wenn? Ich stelle mir alternative Berufe vor und höre in meinem Kopf Sätze wie: In einem anderen Leben wäre ich Architektin. In einem anderen Leben wäre ich Künstlerin oder in einem anderen Leben wäre ich Designerin geworden. Dabei reizte mich vor allem immer der Beruf als Designerin. Während ich meine Masterarbeit schrieb, informierte ich mich über die Design-Unis in Berlin. Und wie von Geisterhand bewarb ich mich, ohne auch nur darüber nachzudenken, innerhalb von wenigen Wochen auf ein Modedesign Studium. Ich begann Aktzeichnenkurse zu besuchen und meine Lehrerin aus dem Aktzeichenkurs, mittlerweile Freundin, nahm mich unter ihre Fittiche für das Portfolio, welches ich in die Bewerbung für das Studium legte und das beste: Ich wurde genommen! Später erzählte ich meiner Therapeutin davon, die stolz auf mich war. Es war ein Meilenstein, um wieder mehr auf mein inneres Kind zu hören. “Und, wie geht es Ihnen, erzählen Sie es Ihren Eltern?,” fragte sie mich. “Ich bin richtig happy, aber ach’, bei meinen Eltern, ich weiß es nicht,” druckste ich herum. Daraufhin konterte sie: “Erzählen Sie es nicht ihren Eltern, die Suppe ist schon salzig.” Recht hatte sie und bis heute wissen sie nicht.

 In den letzten zwei Wochen flimmerten in der ganzen Welt und auf meinen Social Media Kanälen die Worte des verstorbenen Designers und Künstlers von Virgil Abloh: “Everything I do is for the 17-year-old version of myself.” Vor ein paar Jahren verfolgte ich intensiver das Schaffen des aus Chicago gebürtigen Designers. Abloh inspirierte mit seinem eigenen Modelabel Off-White sowie Kollaborationen mit Louis Vuitton, Nike oder Ikea eine ganze Generation an Kunst- und Kreativschaffenden. Vor allem aber inspirierte er eine ganze Generation an Schwarzen Künstlerinnen und Künstlern. Entgegen den Erwartungen seiner ghanaischer Eltern sowie den gesellschaftlichen Erwartungen an Schwarze Männer in den USA, transformierte er sich selbst vom Bauingenieur zum Architekten, dann zum Creative Director und zum Designer und letztendlich zum allumfassenden Visionären. Streetwear wurde zu High Fashion und seine Mode schaffte es, das gängige Verständnis von High Fashion in Frage zu stellen. Er inspirierte weltweit eine ganze DIY-Kultur und Menschen von überall dazu, den Edding in die Hand zu nehmen und die eigenen Sneakers zu beschriften.

Wenn ich sein Zitat lese, muss auch ich an mein jüngeres 17-jähriges Ich denken. Wie ich mit viel Hoffnung in die Welt blickte. Damals gab es noch kein Instagram und damals konnte ich nicht auf Designer oder Architekten hinaufblicken, die so aussahen wie meine Freund*innen und ich. Ich freue mich in einer Zeit zu leben, in der Berufe als Multiplikator*innen mit vielen Interessen und Skills möglich sind. Letztlich passe auch ich nicht in die eine Kategorie und das ist vollkommen ok so. Mit Mitgefühl kann ich auch meinen Eltern in die Augen schauen. Vielleicht zeige ich ihnen doch meine Bilder und erzähle ihnen von meiner ersten Gruppenausstellung. 

Text: Huyền Nguyen

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