Türkei, eine vergangene Liebe

Zu den Jahrestagen von Solingen und Gezi

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Zu den Jahrestagen von Solingen und den Gezi-Protesten erinnert unsere Autorin Türkiz Talay daran und schildert, wie diese Ereignisse sie heute noch bewegen.

Als ich heute morgen aufwachte und in meine Timeline sah, erinnerten einige meiner türkischstämmigen Bekannten und Freunde an zwei Ereignisse, die sich heute zum wiederholten Male jähren. Der Brandanschlag auf ein von türkischen Bürgern bewohntes Haus in Solingen am 29. Mai 1993, bei dem fünf Frauen und Kinder ihr Leben verloren. Und – 20 Jahre später – am 29. Mai 2013 die friedlichen Proteste im Gezi-Park in Istanbul, die im Juni von der türkischen Regierung gewaltsam beendet wurden.

29. Mai 1993:
24 Jahre rechtsextremistischer Brandanschlag von Solingen

30.Mai 2013:
4 Jahre Gezi-Proteste

Beide Ereignisse haben mit mir zu tun, oder vielmehr mit meiner doppelten Identität. Mit dem türkischen Teil meines Herzens, wie ich es empfinde. Ich bin in Berlin geboren und aufgewachsen, ich habe nie in der Türkei gelebt – und doch fühle ich mich diesem Land emotional verbunden. Wie mit einer vergangenen Liebe, die man für immer in seinem Herzen trägt, und die einen leise lächeln lässt, sobald man an sie denkt.

 

Wir dachten, Rechtsradikale gibt es nur im Osten

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie der Brandanschlag meine Mutter und all unsere türkischen Verwandten, die in Berlin und anderen Bundesländern lebten, in Schock-Starre versetzte. Ich war damals 19 Jahre alt, machte gerade mein Abitur und interessierte mich für das, was in der Welt geschah. Die Wende war zwar schon vier Jahre her, aber die Mauer in den Köpfen war noch immer präsent. Aus heutiger Sicht waren diese vier Jahre nichts. Die Wunden klafften noch offen im Herzen der Gesellschaft, bis dahin hatte sich nicht einmal Kruste gebildet. Bis zu diesem Tag hatten wir geglaubt, dass Rechtsradikale nur in den neuen Bundesländern leben. Im Tal der Ahnungslosen, wo sie ja zu Zeiten der DDR so gut wie keinen Kontakt zu Bürger*innen mit Wurzeln in anderen Ländern hatten. Die Anschläge von Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992) auf von Vietnames*innen bewohnte Heime sprachen dafür. Gefühlt waren diese beiden Orte noch immer so weit weg von uns.

Die Anschläge von Mölln und Solingen haben uns zutiefst verunsichert

Aber dann erfolgten die Anschläge in Mölln im November 2012 auf zwei von türkischen Bürger*innen bewohnten Häusern, bei dem zwei Mädchen und ihre Großmutter ums Leben kamen. Ausgeführt von zwei Rechtsradikalen, die die türkischstämmige Familie Arslan kannten. Einer von ihnen ging mit der Tante eines Opfers in eine Schulklasse, kam regelmäßig zum Essen in den Imbiss der getöteten Großmutter Arslan. Es waren türkische Bürger*innen in Deutschland, wie wir – ermordet von Menschen, die mit ihnen seit vielen Jahren in der gleichen Stadt lebten. Die möglichen Gründe, mit denen wir die Taten der ostdeutschen Neo-Nazis zu erklären versuchten, die ja in der DDR keinen Kontakt zu Migrant*innen hatten – die griffen hier nicht.

Anschlag in Solingen. 1993 Bild: CC BY-SA 2.0 DE Sir James

Ein halbes Jahr später, der Anschlag von Solingen. Es war der bislang folgenschwerste, rassistische Mordanschlag in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Fünf Frauen und Kinder starben in den Flammen, die Rechtsradikale vorsätzlich im Flur ihres Hauses gelegt hatten. Eines der Opfer, Hatice Genç, war genau so alt wie ich. Ich las damals jeden Zeitungsartikel, jede Dokumentation, jede Analyse dazu – und blieb fassungslos. Sollte das etwa unser Deutschland sein? Ich spürte eine große Verunsicherung in der türkischen Community. Meine Mutter tauschte sich täglich mit Bekannten und Verwandten zu diesem Thema aus. Die Anschläge machten ihr – auch nach über 20 Jahren in Deutschland – ernsthafte Sorgen. Von einer Rückkehr in die Türkei war die Rede. Und zum ersten Mal stellte ich mir die Frage: Ist dieses Deutschland meine Heimat? Kann ich mich hier noch sicher fühlen? Aber wenn nicht hier, wo dann? Wir sind hier geblieben und nicht in die Türkei zurückgekehrt. Aber meine Mutter, die erst im Alter von knapp 30 Jahren nach Deutschland gekommen war, hat damals der Gedanke sehr beruhigt, jederzeit wieder zurück gehen zu können, wenn es hier zu schlimm werden sollte. Es klang fast ein wenig trotzig, wenn ich sie in diesen Zeiten oft hören sagte:

„Wenn die Deutschen uns hier nicht mehr wollen, dann gehen wir eben zurück!“

Kann ich überhaupt „zurück“ gehen?

Aber was war mit mir? Konnte ich einfach so wieder „zurück“ gehen? Meine Heimat hatte ich mir nicht ausgesucht, aber es war bis zu diesen Anschlägen immer Deutschland gewesen. Ohne Einschränkungen. Trotzdem war ich auch fast ein wenig stolz darauf, dank meiner legalen doppelten Staatsbürgerschaft die Möglichkeit zu haben, eines Tages auch in die Türkei auswandern zu können, wenn es hart auf hart käme.

Und die Gezi-Proteste? Die haben für mein Empfinden viel damit zu tun, wie ich mich heute fühle mit meinen zwei Identitäten. Denn heute ist vieles anders. Die Gezi-Bewegung vor genau vier Jahren hat uns hier lebenden Türk*innen Hoffnung gegeben, dass eben nicht alle dort lebenden Türk*innen mit der Politik Erdoğans einverstanden sind. Es war eine Aufbruchsstimmung, eine Lichtblick, dass sich jetzt alles zum Guten wendet.

In Erinnerung an Gezi. Bild: unbekannt

 

Ich habe keine zweite Option mehr

Heute ist davon so gut wie nichts mehr übrig. Die kritischen Stimmen wurden gewaltsam mundtot gemacht, alle anderen sind verstummt. Wem kann man das verübeln, wenn man sich die aktuellen Entwicklungen in der Türkei anschaut.

Und was bedeutet das für mich? Ich habe keine zweite Option mehr. Ich kann mir im Moment überhaupt nicht vorstellen, in die Türkei zu ziehen. Ich habe so gar kein Gefühl mehr dafür, wie es dort für mich sein würde. Ob ich mich sicher fühlen könnte. Deutschland ist mein Zuhause, ob ich will oder nicht. Und das Bild meiner vergangenen Liebe verblasst immer mehr in meinem Herzen, das vor Sehnsucht blutet…

Mahnmal zum Gedenken an den Anschlag von Solingen 1993. Bild: CC BY-SA 3.0 Frank Vincentz

Meine Gedanken sind bei allen Opfern und deren Angehörigen rechtsradikaler Mordanschläge in Deutschland, allen Opfern der gewaltsamen Polizeieinsätze im Gezi-Park und auf Solidaritätsdemonstrationen, sowie der Räumung des Taksim-Platzes in Istanbul im Juni 2013.

 

Text: Türkiz Talay

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