Die Veröffentlichung des jüngsten Musikvideos “Ses etme” der Istanbuler Rockband ATHENA hat in den letzten Tagen für viel Aufsehen in der Türkei gesorgt. Vor allem in den sozialen Medien wurde das Video, welches Gewalt gegen LGBT+ Individuen thematisiert, seit ihrer Veröffentlichung mehr als zwei Millionen Mal auf YouTube geschaut – ein Zeichen dafür, dass LGBT+ Aktivismus auch im türkischen Mainstream angekommen ist.
Während einige LGBT+ Individuen in der türkischen Gesellschaft sichtbar, anerkannt und akzeptiert sind, sind gesellschaftliche Vorurteile und Diskriminierung insbesondere auf dem Arbeits-und Wohnungsmarkt für viele Mitglieder der LGBT+ Community alltägliche Realität. Diese Situation zwingt viele dazu, unter schlechten Bedingungen zu leben und ihr Leben durch Sexarbeit finanzieren zu müssen. Ihre Tätigkeit als Sexarbeiter ist zwar Normalzustand, allerdings illegal, weshalb es oft zur Gewalttaten und generell zu einer Marginalisierung von der Mehrheitsgesellschaft führt.
Unter diesen Bedingungen versucht die LGBT+ Community schon seit Jahren die Rechte der Sexarbeiter – aber auch die Rechte in anderen marginalisierten Tätigkeitsfeldern – zu stärken und die Gewalt gegen die LGBT+ Individuen zu verringern. Viele Hindernisse bleiben jedoch bestehen und insbesondere aufgrund der Gleichgültigkeit der Mainstream-Medien gegenüber LGBT+ Themen bleiben die Probleme der LGBT+ Community für die Mehrheit der Menschen in der Türkei unsichtbar.
Erst als Anfang des Jahres Transaktivistin Hande Kader in Istanbul brutal ermordet wurde, erregte das Thema mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit und wurde von einigen Randmedien thematisiert. Hande wurde von einer Gruppe von Männern mehrfach sexuell vergewaltigt und gefoltert – später verbrannten sie ihren Körper. Ihr Mord ähnelte dem Fall Özgecan Aslan – eine junge Frau, die 2015 auf ähnlich brutale Weise ermordet wurde. Der Fall Özgecan erregte national viel Aufsehen. Allerdings wurde der Mord an Hande nicht zum Mittelpunkt nationaler Berichterstattung, sodass nur LGBT+ Aktivisten und LGBT+ freundliche Medien den Fall verfolgten und für angemessene Berichterstattung sorgten.
Mit “Ses Etme” wollte ATHENA diese verzerrte Wahrnehmung brechen und erlangte mit ihrem Musikvideo mediale Aufmerksamkeit für die LGBT+ Community: denn obwohl das Video nicht im Fernsehen zu sehen ist und nicht auf nationalen Musiksendern läuft, reichte die positive Rezeption in den sozialen Medien dazu aus, dass die Mainstream-Medien über den Erfolg von “Ses Etme” sprachen. In einer Zeit in der das Wort “gay” im türkischen Fernsehen zensiert wird, sollte daher ATHENA’s Schritt ein Musikvideo zu diesem Thema zu drehen und zu veröffentlichen, als mutig eingeordnet werden. In einer Zeit in dem die Öffentlichkeit immer konservativer wird, sind Beiträge, die die Sichtbarkeit der LGBT+ Community erhöhen und unterstützen seltenes Gut.
“Ses Etme” zeigt daher auf eine sehr gute Art und Weise, dass kontroverse Themen wie LGBT+ Rechte im Internet diskutiert werden können und dass eine breite Masse von Menschen in der Türkei bereit dazu ist. Das Video von ATHENA ermöglicht daher einen Austausch, der bisher so nicht stattgefunden hat. In dem Video wird auf der einen Seite die Drag-Queen-Kultur gefeiert und auf der anderen Seite wird die abendliche Tradition einer queeren Freundesgruppe dargestellt.
Das intime Porträt des Protagonisten reicht dazu aus, das zwischen dem Zuschauer und dem Protagonisten eine “persönliche” Verbindung geschaffen wird, die oftmals in der Berichterstattung über Mord und Gewalt von LGBT+ Individuen so nicht stattfindet. Außerdem wird der Protagonist des Videos von der Mutterfigur gerettet, die entgegen stereotypischer Annahmen, den Protagonisten nicht verurteilt und ablehnt. Die Mutterfigur repräsentiert daher das Potenzial eines Jeden, sich im Falle einer Gewalttat, für die LGBT+ Individuen einzusetzen.
Die positive Rezeption des Videos in den sozialen Medien zeigt, dass sich LGBT+ Aktivismus in der Türkei an einem Wendepunkt befindet – insbesondere auch, weil heterosexuelle Musiker, wie Athena, ein Musikvideo produzieren können, in dem sie LGBT+ Individuen in den Mittelpunkt stellen und dabei eine Diskussion um die LGBT+ Rechte und Gewalt auslösen. LGBT+ Organisationen wie LISTAG und KAOS GL versuchen schon seit Jahren die Sichtbarkeit und Akzeptanz ihrer Community zu verbessern.
Daher sollte der Erfolg von “Ses Etme” als ein weiterer Erfolg der LGBT+ Community verstanden werden und sollte in den größeren Rahmen des Erfolges der Bewegung eingeordnet werden. Die Reaktion in den sozialen Medien hat gezeigt, dass viele Menschen in der Türkei die Sichtbarkeit der LGBT+ Individuen wichtig finden und die Bewegung unterstützen. Schon bald könnten vielleicht auch LGBT+ Künstler und nicht nur Mainstream-Musiker wie ATHENA, solche Videos in der Türkei machen.
Anmerkung: Dieser Artikel wurde von einem weißen, heterosexuellen, privilegierten Mann geschrieben, der sich als Unterstützer der LGBT+ Community sieht. Seine Absicht beim Verfassen dieses Artikels war es nicht die Diskussion anstelle von LGBT+ Individuen zu führen, sondern wie ATHENA, die Sichtbarkeit der LGBT+ Community zu fördern.
Bilder: »Ses Etme« von Athena, Regisseur Gönenç Uyanık
Übersetzung: Gözde Böcü
*Zuerst erschienen am 09.10.2016 auf Englisch in Independent Turkey.