„Wer einem Menschen das Leben rettet, rettet die ganze Welt“

Selahattin Ülkümen: Ein Türke in Yad Vashem

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Auf die Frage, was ihn zum Helden hat werden lassen, soll der türkische Diplomat Selahattin Ülkümen einmal entgegnet haben: „Alles, was ich getan habe, war, meinen Pflichten als menschliches Wesen nachzukommen.“ Eine recht bescheidene Antwort für jemanden, der 42 Menschen das Leben gerettet hat und dafür 1990 als bisher einziger türkischer Staatsbürger als „Gerechter unter den Völkern“ in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem geehrt wurde. Die Auszeichnung „Gerechter unter den Völkern“ erhält, wer zwischen 1933 und 1945 große persönliche Risiken in Kauf nahm, um von der Deportation bedrohte Juden zu schützen.

Das Denkmal auf Rhodos, Quelle: skibbereeneagle.ie

Als junger Mann war Ülkümen türkischer Konsul auf Rhodos. Die Insel in der Süd-Ägäis war fast 400 Jahre lang Teil des Osmanischen Reiches gewesen, als sie 1912 während des Osmanisch-Italienischen Krieges von Truppen des Königreiches Italien besetzt wurde. Anfang der 1940er lebten auf Rhodos 3700 überwiegend sephardische Juden. Viele von ihnen ergriffen bereits unter der Herrschaft des faschistischen Italiens die Flucht. Als 1943 der Diktator Benito Mussolini gestürzt wurde, Italien einen Waffenstillstand mit Teilen der Anti-Hitler-Koalition einging und die deutsche Wehrmacht Rhodos besetzte, befanden sich dort noch rund 1700 Juden.

Jubelnde Bürger von Rhodos nach der Befreiiung der Insel 1945. Credits: Hawkins Trevor J (Sergeant)

Ülkümens Liste

Mitte Juli 1944 befahl Ulrich Kleemann, deutscher Kommandant der Ost-Ägäis, ihre Verhaftung und Deportation nach Auschwitz-Birkenau. Dank Ülkümens Einsatz blieb dieses Schicksal jedoch mindestens 42 Juden erspart.

Der damals 30-Jährige hatte zunächst denjenigen, die einst osmanische Staatsbürger gewesen waren, türkische Papiere ausgestellt. Den Deutschen gegenüber behauptete Ülkümen zudem, es gebe „ein türkisches Gesetz, das besagte, Ehegatten türkischer Staatsbürger wären automatisch auch türkische Staatsbürger“, wie die Überlebende Matilda Toriel überliefert hat. Ein solches Gesetz existierte nicht; Ülkümen hatte es erfunden, um die Nazis zu täuschen und die jüdischen Ehepartner ebenfalls zu schützen.

Selahattin als junger Soldat. Quelle: skibbereeneagle.ie

Das reichte jedoch nicht aus: Da die deutschen Machthaber die Meinung vertraten, dass alle Juden unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft deportiert werden müssten, drohte Ülkümen damit, die türkische Regierung einzuschalten, sollten die Betroffenen mit den von ihm ausgestellten Pässen nicht freigelassen werden. Ein Bluff, der funktionierte: Die Nazis wollten zu dem Zeitpunkt einen Konflikt mit der Türkei – es bestanden noch diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zwischen den Ländern – offenbar vermeiden. So erlangten alle, deren Namen auf Ülkümens Liste standen, ihre Freiheit und wurden vor der Deportation bewahrt.

Ülkümens Handeln war doppelt mutig. Zum einen legte er sich mit den deutschen Besatzern an. Zum anderen widersetzte sich der Konsul auch den Anordnungen der türkischen Regierung. Diese hatte nämlich 1938 ein Dekret erlassen, wonach ausländischen Juden keine Visa erteilt werden sollten.

Selahattin auf einer Briefmarke. Quelle: skibbereeneagle.ie

Nicht nur Licht

Ausschließlich mit Ruhm bekleckert hat sich die während des Zweiten Weltkrieges neutrale türkische Republik nicht. Vielmehr war ihre Politik „widersprüchlich“, wie die Turkologin Corry Guttstadt in ihrem Buch „Die Türkei, die Juden und der Holocaust“ schreibt. Zwar habe das Land einerseits verfolgten deutsch-jüdischen Wissenschaftlern und Künstlern Exil gewährt, andererseits jedoch wenig unternommen, um ihre im NS-Machtbereich befindlichen jüdischen Staatsbürger zu retten.

Auch ein anderes Kapitel des Zweiten Weltkrieges zeigt diese Widersprüchlichkeit: 1942 sank das Schiff Struma mit 781 jüdischen Flüchtlingen aus Europa und zehn Besatzungsmitgliedern vor der Küste Istanbuls, fast alle starben. Zuvor waren die Passagiere wochenlang daran gehindert worden, von Bord zu gehen, obwohl dort katastrophale Bedingungen herrschten. Die Türkei hatte die Menschen nicht aufnehmen wollen. Und auch Großbritannien, mit dem die türkische Regierung über den Umgang mit der Struma verhandelte, wollte den jüdischen Flüchtlingen wegen fehlender Visa keine Zuflucht in ihrem damaligen Mandatsgebiet Palästina gewähren. Die traurige Geschichte dieses Schiffes ohne Hafen wurde in mehreren Romanen, unter anderem von Zulfü Livaneli und Doğan Akhanlı, verarbeitet.

Selahattin in den 1930ern und kurz vor seinem Tod 2002, Quelle: skibbereeneagle.ie

Und: Antisemitismus gab (und gibt) es auch in der Türkei. 1934 war es beispielsweise zu einer Reihe von Pogromen gegen die dort ansässige jüdische Minderheit in der Region Thrakien gekommen, vor denen 15 000 Juden fliehen mussten.

Mut und Bescheidenheit

Selahattin Ülkümen aber stand für die andere Seite, die des Schutzes und des Mutes. Neben der Erwähnung in Yad Vashem wurden ihm weitere Ehrungen zuteil. 2003 enthüllte Ishak Haleva, der amtierende Hahambaşı (Titel des Großrabbiners der Türkei), eine Ülkümen-Gedenktafel in Istanbul. 2012 wurde eine Grundschule in Van feierlich nach ihm benannt.

Die Einweihung der Selahattin Grundschule in Van, Quelle: salom.com

Ülkümen, der erst 2003 im hohen Alter von fast 90 Jahren in Istanbul verstarb, wurde mehrfach nach seinen Motiven befragt. Überliefert ist unter anderem folgende Aussage: „Im Islam ist es wie im Judentum; wer einem Menschen das Leben rettet, rettet die ganze Welt. Ich würde exakt das Gleiche noch einmal tun.“

 

EXKURS: Sephardische Juden und das Osmanische Reich

Sephardische Juden lebten seit dem Spätmittelalter im Osmanischen Reich. Dort wurden sie aufgenommen, als nach der Reconquista der Iberischen Halbinsel und während der Inquisition zwischen 1492 und 1513 mehr als Hunderttausend Juden vertrieben worden waren.

Die größten jüdischen Gemeinden der Türkei gibt es heute in Istanbul und Izmir. Synagogen, jüdische Friedhöfe, jüdische Schulen und Zeitungen (zum Beispiel die zweisprachige Zeitung Şalom Gazetesi, die in Türkisch und Ladino – der Sprache der Sepharden – erscheint) zeugen vom jüdischen Leben, das mit der Geschichte des Osmanischen Reiches und der Türkei untrennbar verknüpft ist. Heute leben in der Türkei noch circa 18 000 Juden, 96 Prozent davon sind Sepharden. Doch die Zahlen sind dramatisch zurückgegangen: 2010 waren es noch 26 000 und 1948, als der Staat Israel gegründet wurde, 120 000.

Ende des 19. Jahrhunderts lebten im Osmanischen Reich um die 400 000 Juden. Aufgrund der engen Beziehungen zwischen dem Osmanischen Reich und Europa emigrierten türkische Juden in größerer Zahl nach Mittel- und Westeuropa. So lebten beispielsweise türkische Sepharden im Berlin der Vor- und Zwischenkriegszeit und auch in Wien gab es bis Anfang der 1930er Jahre eine größere sephardische Gemeinde. Mehrere Tausend Juden türkischer Staatsangehörigkeit bzw. von der Türkei ausgebürgerte und dadurch staatenlos gewordene Juden, die in Ländern wie Deutschland oder Frankreich lebten, fielen der Shoah zum Opfer.

 

Titelbild: https://historia.co.il/

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