Die Obdachlosen, die ich 2015 in der Umgebung von Beyoğlu getroffen habe, hatten einen Lebensstil, der einem kommunistischen, mittelosen Dorf ähnelte. Sie begannen am Morgen zu trinken und füllten ihre Bäuche solange, bis sie ohnmächtig wurden. Mit dem ersten Licht des Tages berührten die Flaschen erneut ihre Lippen. Doch sie teilten nicht nur den Alkohol miteinander, sondern es gab auch Freundschaft, Liebe und Zuneigung.
Sie hatten ihr Zuhause verloren, wurden vom Rest der zivilisierten Welt vertrieben, aber sie hatten noch Menschlichkeit.
Sie lebten schnell. Die meisten hatten nur ein kurzes Leben auf der Straße. Einige von ihnen wurden in Armengräbern beigesetzt. Von Einigen kamen frühere Familienmitglieder zum Begräbnis. Übrig bleiben nur die Erinnerungen. Diese Porträts erzählen die Geschichten von Obdachlosen, die einst in den Nischen und Winkeln von Beyoğlu wohnten, einem der belebtesten Orte der Welt, an dem die Zeit siebenmal so schnell wie anderorts vergeht.
Name: Gönül
Alter: 63/ verstorben
Wohnplatz: Gezi Park
Beyoğlu war im Laufe der Geschichte das Zuhause von vielen Obdachlosen, Abenteurern und Außenseitern. Als Gönül das erste Mal in den 1970ern dort ankam, boomten in der Filmindustrie (Yeşilçam) Erotik- und Pornofilme. Unwillentlich spielte sie in einem dieser Film mit, was einen immerwährenden Schatten auf ihr Schicksal warf.
Als sie auf der Straße lebte, wurde sie oft geschlagen, beleidigt, belästigt und vergewaltigt. Doch sie verlor nie ihr Lächeln.
Sie kam mit dem Traum Schauspielerin zu werden nach Beyoğlu und stellte sich auch jedem als solche vor. Mit dieser Beharrlichkeit war sie die meiste Zeit auf Spaziergängen in den Straßen von Yeşilçam anzutreffen.
Ihr letzter Auftritt fand in einem verlassenen Gebäude statt, wo dann das Leben des Vogels tragisch endete. Geschlossene Vorhänge ohne Abschied… Beim Durchblättern der Fotos von ihr fällt auf, dass sie auch inmitten von Menschenmassen einsam war. Doch das bittere Lächeln auf ihrem Gesicht war ihre beständige Nummer, eine Bürde, die unausgesprochen auf dem Leben vieler lastete.
Name: Kazım
Alter: 64
Wohnplatz: Gezi Park
Kazım hat schon früh in seinem Leben die Gitarre zur Hand genommen und dann nie wieder abgelegt. Er war sechzehn, als er das erste Mal auf der Straße landete.
Er war ein Freigeist und Bohemien, was es leichter für ihn machte in Bars uns Clubs für Geld aufzutreten. Als er sich dazu bereit fühlte, heiratete er eine Frau, die er liebte. Doch das ging nicht gut aus. In den 90ern wurde es für ihn schwierig einen Ort zu finden, wo er spielen konnte und so nahm er seine Gitarre und begann auf der Straße zu spielen. .
Als er erstmals begann auf der Straße zu leben, wirkten er und Gönül wie ein Liebespaar. Bis Pınar kam. Trotz Pınars frühen Verschwindens, lebte Kazım eine Zeit lang mit zwei Frauen zusammen, was von den anderen obdachlosen Männern nicht sehr begrüßt wurde. Sie unterstellten ihm, dass er von dem lebte, was die Frauen ihm einbrachten.
Laut Kazım ist „Jazz“ das Allerheiligste, wenn es um Musik geht. Er sagt: „Jazz lässt dich alles vergessen, was du weißt. Du startest im Leeren und dann wachsen dir Flügel zum Fliegen.“ Gönül und Pınar sind jetzt tot. Heute zieht Kazım allein seine Runde und versucht den Anderen möglichst aus dem Weg zu gehen.
Name: Yüksel
Alter: 53
Wohnplatz: ATM
Er beginnt eine Prügelei, wird geschlagen, fängt sich von Zeit zu Zeit Eine ein, aber gibt niemals auf. Trotz seines schnell reizbaren und jähzornigen Charakters, ist sein inneres Kind wohlbehütet und vor der Masse versteckt.
Man erhascht einen Blick auf dieses Kind, wenn plötzlich aus dem Nichts ein Lächeln in seinem Gesicht erscheint und er Verse aus „Bluebird“ von Bukowski zitiert.
Seine Mutter war bei seiner Geburt fünfzehn; er war vierzehn, als er sein erstes Verbrechen begann. Seine unglücklichen Familienverhältnisse, der frühe Tod seines Vaters, sein unliebsamer Stiefvater und eine Zwangsheirat brachten ihn schließlich zum Alkohol.
In einer trostlosen Nacht fiel er von einer Klippe und musste sein Geschäft schließen, in dem er für die Arbeiter aus der Nachbarschaft bügelte. Er stürzte in ein Loch: Erst gesundheitlich und dann zerbrach auch sein Berufs- und Familienleben. Er traf eine schlechte Entscheidung, verließ seine Frau und seinen zweijährigen Sohn.
Nun macht er die dunklen Gassen von Beyoğlu zu seinem Zuhause und rezitiert Gedichte von berühmten Poeten. Er erzählt niemandem, woher er die zahlreichen Gedichte kennt und so geht er davon und trinkt gefälschten Wodka.
Wenn er nicht an billigen Alkohol kommt, verdünnt er Kölnisch Wasser und teilt es offen mit jedem.
Yüksel war einer der ersten Obdachlosen, die ich 2015 traf. Dutzende haben auf den Straßen ihr Leben gelassen, aber er lebt immer noch und führt sein Elend fort. Einsam in den Straßen von Beyoğlu.
Name: Kadir
Alter: 57/ verstorben
Wohnplatz: ATM
Kadirs Freunde nannten ihn „Kuckuck-Kadir“. Es gab zwei von ihnen: Der andere war „Kuckuck-Ömer“. Kadir war immer traurig.
Er konnte nicht herausfinden, wann und welchen Fehler er begannen hatte. Er hat einmal einen Mord begannen und fand sich im Gefängnis wieder. Als er wieder frei kam, wollte keiner seiner drei Söhne ihn haben. Er rief sie an und erzählte ihnen, dass er nirgendwo hingehen konnte. Doch sie wollten ihn nicht. War es wegen des Mordes? Man weiß es nicht, er erzählte mir nie warum.
Er war ein so trübsinniger Mann in irgendeiner Ecke sitzend, der seinen Kopf zwischen den Händen hielt, als würde er denken: „Was mache ich hier?“. Er hat sich niemals als einen Obdachlosen gesehen. Ich habe ihn niemals fröhlich gesehen.
Eines Tages musste er ins Krankenhaus. Einige Zeit später rief ich einen seiner Söhne an und dieser erzählte mir, dass sein Vater Krebs hätte. Er sagte mir, dass das keine Überraschung für ihn wäre. Kadir ist jetzt tot.
Name: Ömer
Alter: 55/ verschwunden
Wohnplatz: Straßen
Seine Tochter war Staatsanwältin. Er pflegte zu sagen, dass er ein Ausreißer wäre. Er hatte Geld und teilte es offen, egal mit wem. Er hatte eine kindliche Großzügigkeit und versuchte so lustig, wie möglich zu sein. Schon das kleinste Unglück verletzte ihn innerlich, doch er versuchte, wann immer er konnte, Freude zu verbreiten.
Bis zum Ende seiner Gymnasialzeit, war er ein Einser-Schüler. Danach geriet er in politische Unruhen und sein Vater schickte ihn zurück in sein Dorf Sivas. Dort wurde er Schäfer und heiratete. Er zog seine Tochter auf und ermöglichte ihr eine gute Ausbildung.
Eines Tages hatte er genug vom Dorfleben und ließ alles hinter sich. Er kam nach Beyoğlu, wo unzählige Landstreicher und Ausgestoßene lebten. Er hatte einen Hund bei sich, seinen treuen Freund, der ihn beschützte. Kein Fremder konnte sich ihm ohne weiteres nähern. Eines Nachts verließ er diesen Ort, so wie er gekommen war, ohne jemanden ein Wort zu sagen.
Über den Autor und Fotografen
Anıl Yurdakul ist Fotojournalist und veröffentlicht seine Projekte in zahlreichen Magazinen. 2015 begann er Tage und Nächte mit den Obdachlosen in Istanbul zu verbringen. Dabei tauchte er tief in das Leben der Randexistenzen auf den Straßen Beyoğlus ein, führte Interviews und dokumentierte ihr Leben fotografisch.
Text und Fotos: Anıl Yurdakul
Übersetzung: Eileen Kelpe