Meine deutschen Freundinnen fragten mich vor Kurzem, wieso ich diese blauen Augen trage. Mir fiel auf, dass ich an diesem Tag tatsächlich voller blauer Augen war. Ich trug sie als Ohrring, als Kette, als Armband und als Ring. Ich erklärte, dass dies Talismane seien, die den Menschen vor bösen und eifersüchtigen Blicken schützten. Aber woher dieser Aberglaube kam, konnte ich ihnen nicht beantworten.
Nach dieser Feststellung sah ich diese Augen überall hängen: in Dönerläden, in türkischen Supermärkten und Arztpraxen sowie in allen Taxen mit türkischen Fahrern. Mir schien, als wäre ganz Berlin mit blauen Augen in unterschiedlichen Formen und Varianten übersät. Ich recherchierte ein wenig und war erstaunt.
Der Glaube an den bösen Blick datiert bis in die Bronzezeit zurück, in der erstmals augenförmige Amulette hergestellt wurden. Im alten Ägypten, in Griechenland und im Römischen Reich wurden Talismane in Form von Händen gefunden. Bis heute erfreuen sich die blauen Augen großer Beliebtheit und sind aus dem Straßenbild der Türkei nicht mehr wegzudenken.
Nazar
Das Wort stammt aus dem Arabischen und bedeutet „böser Blick“. Dahinter steckt der Glaube an eine sehr starke Energie mancher Menschen, mit der sie anderen Menschen oder sogar Tieren Schmerz zufügen, Krankheiten und auch den Tod herbeiführen können. Dieser Aberglaube geht sogar so weit, dass Gegenstände, die mit eifersüchtigen Augen angeschaut werden, zerbrechen oder zerspringen.
„Nazarlık“
Um diese böse Energie abzulenken, werden sogenannte nazarlıks (türk. Talisman, Amulett) getragen. Am bekanntesten sind die blauen Augen, aber auch andere Formen, wie Steine mit Löchern, Knoblauch, Adlerfüße, Dattelkerne, Eierschalen, das Auge eines Opfertiers, Geweih, Schwarzkümmel, Nelkenwurzel werden als Schutz gegen das Böse benutzt.
Die Aufgabe
Die nazarlıks sollen die negative Energie auf sich lenken, damit nicht der Mensch, das Tier oder der Gegenstand vom bösen Blick getroffen werden, sondern an ihrer statt die Talismane zerbrechen.
Häufig werden sie an die Kleidung oder an das Kissen von neugeborenen Babys befestigt. Aber auch Erwachsene tragen sie als Mode-Accessoires oder glauben wirklich an die Macht des bösen Blickes.
Außerhalb der Stadt ist dieser Aberglaube sehr verbreitet, weshalb die Bauern all ihre Nutztiere, Traktoren, Gärten und ihr Ackerland mit den Talismanen versehen. Sobald ein nazarlık zerspringt, wissen sie, dass sie auf der Hut vor bösen Menschen sein müssen.
Die Augenform
Die typische Augenform der Glasperlen hat dem Aberglauben zufolge eine starke Verbindung zu „büyü“ (türk. Hexerei und Zauberei). Der Sage nach haben Augen die magische Fähigkeiten in die Zukunft zu sehen, das Böse zu erkennen oder das Böse herbei zu beschwören. Ferner können sie als Schutzschild dienen.
Die blaue Farbe
Blau eine sehr starke und wirksame Farbe. Die Menschen gehen daher davon aus, dass ein blauer Talisman die negative Energie aufnehmen kann und so den bösen Blick entschärft. Schmuckstücke mit bunten und auffälligen Perlen können den bösen Blicken Widerstand leisten, da sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und von der Person ablenken.
Dem Aberglauben zufolge können auch Menschen mit blauen Augen die besagte negative Energie in sich tragen und sollten daher gemieden werden. Oftmals werden Babys vor blauäugigen Menschen sogar versteckt.
Weitere Maßnahmen, um sich zu schützen, sind das Anschwärzen des Gesichtes mit Rauch, Asche oder Schlamm, das Tragen von Sicherheitsnadeln an der Unterwäsche oder das Spucken auf den Sitz, auf dem man vorher saß.
Die Praxis nach dem bösen Blick
Wer trotz aller Vorkehrungen doch vom bösen Blick getroffen wurde, muss ein festgelegtes Ritual ausüben: Eine erwachsene Person spricht bedeutende Gebete und beendet den Exorzismus mit den Worten „uçtu, gitti“ (türk. der böse Blick fliegt, er geht weg). Andere Formen wie das Bleigießen oder das Einfrieren von Salz sollen ebenfalls die negative Energie verscheuchen. Etwas mühselig und heikel sind folgende Praktiken:
1. Es muss Asche aus des Nachbars Ofen geklaut, anschließend mit Wasser vermischt und getrunken werden.
2. Man schneidet heimlich ein Stück von der Kleidung der Person mit dem bösen Blick ab und verbrennt es.
3. Etwas Salz aus dem Hause mit dem bösen Blick wird heimlich mitgenommen und im Feuer verbrannt.
Auch wenn dieser Glaube an den bösen Blick primitiv erscheinen mag, ist er ein fester Bestandteil des alltäglichen Lebens. Ob es ein echter Glaube an das Böse oder nur eine Weiterführung kulturellen Guts ist, können wir nicht genau beantworten. Aber zumindest kennen meine Freundinnen nun die Bedeutung des bösen Blicks!
Credits
Text: Nur Şeyda Kapsız
Illustration: Büke Schwarz
Quelle