Yasemin Yildiz offenbart eine neue Perspektive auf die Muttersprache und entlarvt sie als einen Mythos der jüngeren Geschichte Europas. Ein Mythos, der heute noch nationalistische und rassistische Ideologien füttert.
Deutsch wird in der Schule gelernt
Vielen von euch wird es so gehen: Eure Eltern haben in der Kindheit in ihrer Herkunftssprache mit euch gesprochen und nicht auf Deutsch. Das kann viele Gründe gehabt haben, vielleicht fehlten ihnen die Sprachkenntnisse, vielleicht war es ihnen auch einfach sehr wichtig, euch ihre Herkunftssprache nahezulegen. Deutsch wurde dann im Kindergarten und in der Schule gelernt. Eure sogenannte ,,Muttersprache’’, wäre somit nicht deutsch, obwohl ihr es gut beherrscht.
Nichtsdestoweniger wird es mehrsprachigen Menschen ganz natürlich vorkommen, zwei oder mehr Sprachen auf demselben Niveau zu beherrschen. Leider aber negiert die in Deutschland vorherrschende Idee der ,,Muttersprache’’ diese Realität und somit die Zugehörigkeit von Menschen mit Migrationsgeschichte zu diesem Land. Integration wird hier nämlich mit perfekten Deutschkenntnissen gleichgesetzt.
Woher stammt diese enge Beziehung zwischen ,,Muttersprache’’ und ,,Deutschsein’’?
Bis ins 18. Jahrhundert gehörte ein mehrsprachiges Leben und Miteinander in Europa zur Normalität. König Friedrich II. von Preußen zum Beispiel sprach viel lieber Französisch als Deutsch. Doch mit der Bildung von Nationalstaaten vollzog sich die Monolingualisierung, ein Prozess, der mehrsprachige Gesellschaften zu einsprachigen transformierte. Plötzlich stellte die alltägliche Verwendung von anderen Sprachen eine Gefahr für die Primärsprache dar, mit der ein Nationalgefühl geschaffen werden sollte. Und tatsächlich identifizierten sich immer mehr Menschen mit dem Staat und der dazugehörigen ,,Muttersprache’’.
,,With the gendered and affectively charged kinship concept of the unique “mother tongue” at its center, however, monolingualism established the idea that having one language was the natural norm, and that multiple languages constituted a threat to the cohesion of individuals and societies.’’
Sprache als Sündenbock für soziale Probleme
Das heutige Deutschland hat sich der Idee einer multilingualen Gesellschaft so weit hin wieder geöffnet, dass Mehrsprachigkeit teils als weltoffen und gebildet gilt.
Fakt ist, dass das monolinguale Paradigma und die ,,Muttersprache’’ auch heute noch Vorurteile gegenüber Menschen mit Migrationsgeschichte befeuern. Mehrsprachigkeit wird mit fehlenden Kompetenzen im Deutschensprechen verknüpft, was wiederum auf fehlende Integration zurückgeführt wird. Sprache wird so zum Sündenbock für eigentlich soziale Probleme.
Deswegen ist es an der Zeit, die Idee der ,,Muttersprache’’ zu hinterfragen und Mehrsprachigkeit als Bereicherung anzuerkennen. Es ist an der Gesellschaft, sich von nationalen und monolingualen Ideologien zu lösen und eine vielfältige und multilinguale Realität anzuerkennen, die unserer globalisierten und von Migration geprägten Gesellschaft gerecht wird.