Liebe ist…politisch

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Die kultigen ,,Liebe ist…‘‘-Kaugummis, die man früher an jeder Supermarktkasse finden konnte, erklären in Form eines Comics, der jeder Packung beigelegt ist, welche Erwartungen man an romantische Beziehungen zu stellen hat: ,,Liebe ist… zu wissen, dass ihr immer füreinander da seid‘‘ oder ,,Liebe ist… dankbar zu sein für jeden Tag, den man gemeinsam verbringen kann‘‘. Die Sprüche verkörpern den Mythos der romantischen Partner*innenschaft als private Angelegenheit zwischen zwei Menschen, die vor allem auf Gefühlen basiert. Wir denken, das Gegenteil ist der Fall – ,,Liebe ist… politisch‘‘ und ein Gegenstand, welcher von der Gesellschaft geformt wird. Und diese Gesellschaft ist von Machtungleichheiten geprägt, die auch vor der Liebe keinen Halt machen.

Wieso beruht unser modernes Verständnis von Beziehungen auf Leidenschaft, körperlicher Anziehungskraft und Emotionen?

Bis ins 19. Jahrhundert wurden Ehen systematisch arrangiert und geschlossen. Dabei ging es größtenteils um die Vereinigung von Familien für ökonomische Zwecke und den genealogischen Erhalt. Schlichtweg eine diplomatische Verbindung, in der Fragen des Standes, der religiösen Zugehörigkeit und der finanziellen Beschaffenheit im Mittelpunkt standen. Sympathie, geschweige denn Liebe, zwischen den Eheleuten war zweitrangig.

Besonders Frauen saßen in diesen Beziehungen am kürzeren Hebel, denn sie standen unter der Vormundschaft ihres Ehemannes. Unabhängigkeit konnten sie nur durch seinen Tod erlangen (wenn er ihnen denn genug vererbte und sie nicht mittellos zurückließ). Klingt politisch.

Barbara Kuchler erklärt, dass der neue Liebesdiskurs dem gesellschaftlichen Fortschritt anzurechnen ist: ,, Die moderne Gesellschaft wird komplexer und differenzierter, und es bilden sich spezialisierte Sphären für verschiedene funktionale Probleme heraus. So entstehen etwa die moderne Wissenschaft, die geldbasierte Wirtschaft und eine massenmedial vermittelte Öffentlichkeit. Ebenso entsteht eine besondere Sphäre für Privatheit und Intimität, und romantische Liebe ist ein zentrales Prinzip dieser Sphäre.‘‘

In dieser privaten Sphäre werden Umweltbezüge für das Pärchen hinfällig. Politische Realitäten und gesellschaftliche Missstände wollen sich nun hinter großen Gefühlen verstecken, doch will ihnen das gelingen? Laut Şeyda Kurt: Nein.

So werden Normvorstellungen und Machtverhältnisse reproduziert

In ihrem Spiegel-Bestseller-Roman ,,Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist‘‘ führt die Autorin und Journalistin Şeyda Kurt  aus, dass Rassismus, Klassismus und das Patriarchat auch unsere Liebesbeziehungen durchdringen. Folglich werden Frauen statistisch öfter Opfer von sexualisierter, körperlicher und emotionaler Gewalt, der sie nur schwer entkommen können, wenn sie finanziell abhängig von ihrem Partner sind. Auch wird ihnen die Sorgearbeit im Haushalt und der Familie auferlegt – eine Gegebenheit, fest verankert im heteronormativen Ordnungssystem unserer Gesellschaft.

Die Heteronormativität bezeichnet eine Vorstellung der Welt, in der es nur zwei Geschlechter gibt, Frau und Mann, und nur heterosexuelle Beziehungen als normal gelten. Frau und Mann werden geschlechtsspezifische Rollen und Werte zugeschrieben, in denen der Mann hierarchisch über der Frau steht, aber auch er leidet unter dem System (Stichwort: toxische Männlichkeit).

Queeren Identitäten werden von der Normgesellschaft als ,,unnormal‘‘ gewertet und begegnen daraus resultierend oft Diskriminierung. Zusätzlich können sie sich oftmals innerhalb ihrer queeren Beziehungen nicht den Mustern der Heteronormative entziehen. Zum Beispiel leben sie in einer Kernfamilie, in der einer Person die Rolle der finanziellen Versorgung zufällt, während die andere Person die Care-Arbeit übernimmt. So werden Normvorstellungen und Machtverhältnisse reproduziert.

Über ,,strukturelle Privilegien‘‘ müsse man sich in Beziehungen Gedanken machen, schreibt Şeyda Kurt.

Rassifizierte Personen leben eine andere Realität als weiße, der Mehrheitsgesellschaft angehörenden Menschen. In romantischen Verbindungen kann sich dies dann in Vorurteilen, gegebenenfalls einer Fetischisierung, einer Exotisierung oder in gelebter Ignoranz manifestieren. Das ist nicht nur schmerzhaft für BIPoC, sondern auch ein ständiges Miteinwirken in das System der weißen Vorherrschaft.

All diese Beispiele für Machtdynamiken in der Liebe, sind nur ein Bruchteil der Wirklichkeit von Menschen, die von Diskriminierung und Mehrfachdiskriminierung betroffen sind. Auch Klasse und Behinderungen sind in dieses Netz verwebt.

Wir brauchen neue Comics in den ,,Liebe ist…‘-Kaugummis

Für Şeyda Kurt ist klar, dass man das Ungleichgewicht von Macht und herrschende Unterdrückungsmechanismen nicht wundersam durch Liebe aus der Welt schaffen kann.  Man müsse in die Offensive gehen und die bestehenden Erwartungen an romantische Beziehungen herausfordern. Konkret heißt das: Wir brauchen neue Comics in den ,,Liebe ist…‘-Kaugummis. Wie wäre es beispielsweise mit ,,Liebe ist… Gerechtigkeit.‘‘ , ,,Liebe ist… Solidarität.‘‘, ,,Liebe… ist queer.‘‘, ,,Liebe ist… Aktivismus.‘‘ und ,,Liebe ist… auf jeden Fall politisch.‘‘?

 

Quellen:
https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/heteronormativitaet
missy-magazine.de
Kurt, Şeyda: ,,Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist‘‘. Hamburg 2021.
https://www.sueddeutsche.de/kultur/seyda-kurt-liebe-entzauberung-1.5274682
https://www.theeuropean.de/barbara-kuchler/8201-liebe-ist-eine-erfindung-der-neuzeit
https://vielfalt.uni-koeln.de/antidiskriminierung/glossar-diskriminierung-rassismuskritik/heteronormativitaet#:~:text=Als%20gesellschaftliches%20Ordnungsprinzip%2C%20das%20Geschlecht,das%20Männlichkeit%20über%20Weiblichkeit%20stellt.

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