Alte Stoffe, wenig Diversität, feste, elitäre Formen – am Theater haften viele Klischees. Im Studio Я des Maxim Gorki Theaters, für das er die künstlerische Leitung übernimmt, widmet sich Necati Öziri explizit dem Hier und Jetzt. Wir sprachen mit dem Autor über die Beziehung zwischen Kunst und Politik, die Rolle des Theaters und sein neues Theaterstück „Get Deutsch or die tryin“, das seit letzter Woche im Gorki zu sehen ist.
Du hast ja unter anderem Philosophie und Neue Deutsche Literatur studiert. Wie bist du im Theater gelandet?
So richtig bewusst für das Theater hab ich mich ehrlich gesagt nie entschieden. Ich hab immer schon geschrieben, weil es einfach rausmusste. Das mit dem Theater war eher Zufall. Ich bin nach Berlin gezogen und hatte eine Wohnungsbesichtigung in der Naunynstaße. Da bin ich am Ballhaus Naunynstraße vorbeigelaufen und hab gesehen, dass ein Stück von Deniz Utlu und Sasha Marianna Salzmann zum NSU läuft. Das hat mich interessiert. Im Ballhaus hab ich dann ein Praktikum gemacht, dann eine Assistenz und dann bin ich zum Gorki gekommen.
Was genau machst du als Dramaturg und künstlerischer Leiter?
Als Dramaturg ist man in unterschiedlichen Funktionen tätig. Zum einen macht man konkret Produktionsdramaturgie, das heißt man ist für die jeweilige Produktion im Probenprozess zuständig um den Text zu aktualisieren, zu verschneiden – so eine Art Ping-Pong-Partner fürs Denken im Gespräch mit den Regisseuren. Man versucht, den Blick zu haben, dass alles zueinander passt. Das andere ist Hausdramaturgie. Wir sind also ein künstlerisches Beratungsteam, das gemeinsam den Spielplan macht.
Was zeichnet denn das Studio Я genau aus?
Das Studio hat ein eigenes Programm, einen eigenen Spielplan, ist sozusagen ein eigener autonomer Raum. Wir nennen das immer Kunstasyl für marginalisierte Stimmen, wo wir noch zugespitzter, noch schärfer, noch radikaler die Dinge formulieren, die wir auf der großen Bühne haben. Alles, was wir tun, hat zu tun mit class, race und gender. Bei uns gibts die Regel: Wir sprechen nicht über andere, sondern die sogenannten „Anderen“ sprechen selbst. Das führt häufig zu sehr persönlichen Abenden. Für mich ist das Gorki und das Studio я weniger ein Theater voller Postmigranten denn ein Aufsteigertheater. Hier arbeiten sehr viele Autodidakten, Leute wie ich, die gar nicht aus dem Theater kommen, Kinder von ehemaligen Gastarbeitern, Geflohene usw.
Warum sollte es denn für Kunst oder speziell auch für das Theater Asyl geben?
Das Theater ist wie alle Kulturinstitutionen in Deutschland durchsetzt mit Rassismus. Wir haben entschieden, den Menschen, denen die Zugänge woanders erschwert werden, geben wir Zuflucht. Wir versuchen, die Stimmen für eine offene Gesellschaft zu stärken. Wir können Gegenbilder kreieren. Wir können Empowerment schaffen und ungehörten Leuten eine Stimme geben.
Denn Kunst ist auch nicht unschuldig. Indem sie die Utopie in den fiktiven Raum verschiebt, hat sie Anteil an der Welt, wie sie gerade ist. Es ist für mich auch eine Form von gewaltfreier Agitation. Gleichzeitig hat Kunst immer ein Existenzrecht. Theater ist aufgrund seiner Form schon politisch, weil eine Minderheit auf der Bühne zu einer Mehrheit vor der Bühne spricht.
Glaubst du denn, dass ausgegrenzte oder junge Menschen generell ins Theater gehen?
Ich glaube schon, dass wir ein sehr junges, buntes Publikum haben und dass wir verschiedene soziale Schichten erreichen. Wenn man Zugänge schafft, dann kommen die Leute auch. Ich weiß nicht, ob ich alle erreiche, aber wenn auch nur ein Typ sagt „Endlich hab ich mich gesehen, endlich ging es mal um meine Lebensrealität“, dann gibt mir das schon viel.
Das Klischee des verstaubten, elitären Theaters ist verdrängt?
Das besteht noch bei vielen Jugendlichen und ist meistens auch gerechtfertigt.
Beispielsweise Netflix und Amazon Prime sind jungen Menschen zugänglicher und einfacher zu konsumieren.
Du hast Recht, aber auf der anderen Seite hat das Theater auch eine Kraft, die andere Medien nicht haben. Die Tatsache, dass jemand direkt zu dir spricht – da springt ein Funke über. Ich bin hier und du bist da. Und dann passiert es, dass du mich von innen erlebst und ich dich und wenn wir dann den Raum zwischen den Worten gefunden haben, dann passiert was Besonderes, dann fangen wir an, miteinander zu tanzen. Ich fühle den anderen dann auf eine Art und Weise, wie das beim Fernsehen oder bei Netflix oder so nicht passieren würde.
Ich glaube das A und O dafür ist, dass man auf der Bühne Themen behandelt, die hier und heute mit mir etwas zu tun haben. Wir versuchen uns fast immer in unseren Projekten auf Berlin zu konzentrieren, auf die jetzige Lebensrealität, auf das, was hier vor unserer Haustür stattfindet.
Auch in deinem neuen Stück geht es um das Leben auf der Straße. Get Deutsch or die tryin‘ hatte am 20. Mai 2017 Premiere. Es handelt unter anderem von einer Flucht, die von der politischen Verfolgung nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei ausgeht. Jetzt kann man nach dem Putschversuch letzten Jahres durchaus Parallelen beobachten. Was genau möchtest du denn mit dem Stück vermitteln?
Das Stück ist aufgebaut wie ein Musikalbum. Auf der einen Seite geht es um die vier Boys, die ihren letzten gemeinsamen Sommer verbringen und auf der Rückseite geht es um die Eltern. Mir ging’s darum zu zeigen, welche Auswirkungen Migration auf Familien, auf Kinder, auf Lebensläufe hat.
In dem Stück versucht der Vater ja eine Revolution, darauf folgt ein Militärputsch und er muss fliehen. Ich sehe das sich heute wiederholen. Kids wachsen hier auf, sind verwandt mit dieser Revolution, aber verstehen nicht so richtig, was passiert. Sie verstehen aber, dass sie aus irgendeinem Grund weit hinter den anderen anfangen müssen. Die Kids können nichts für die Konflikte ihrer Eltern, aber tragen die Last mit. Ich wollte die Geschichte der Verlierer erzählen.
Was die aktuellen politischen Entwicklungen angeht, scheinen wir uns ja irgendwie im Kreis zu drehen.
Was ich jetzt erlebe, ist, dass du und ich zu Pressesprechern einer ganzen Generation werden. Wir als Deutschtürken – oder wie auch immer wir es nennen wollen – sind ständig damit beschäftigt, unsere eigene Existenz zu rechtfertigen. Weil wir unter einer bestimmten Brille gelesen werden.
Ich hab auch das Gefühl, wir fangen, was die Integrationsdebatte angeht, wieder bei Null an. Da sind diese ganzen Fragen: „Wie integriert sind die? Gehören die zu Deutschland?“
Glaubst du denn, dass sich Einwanderinnen und Einwanderer noch als Gäste fühlen?
Ich würde mir nie zumuten, für alle zu sprechen, aber ich glaube nicht. Identität hat keine klare Kontur. Wir sind Transitmenschen, die schwimmen gelernt haben auf den Grenzen. Vielleicht ist das einzige, wo ich mich zuhause fühle, das Schreiben.
Was ist mein Ich anderes als ein Text? Mein Ich in der Welt ist literarisch. Ich atme Erinnerungen, ich trinke Hoffnungen, jede meiner Narben ist ein Satzzeichen. Was ist mein Körper anderes als Text? Identität ist was Intertextuelles mit vielen Verweisen. Es ist ein Gewebe, wie mein ganzes Dasein.
Interpretierst du auch andere Menschen als Texte?
Auf ’ne Art ja. Natürlich trägt jeder eine Geschichte in sich. Eine vergangene oder zukünftige Geschichte, Warnungen, Hoffnungen, all das sind sozusagen Dinge, die uns ausmachen. Viel mehr als ein Wort wie „Deutsch“ oder „Leitkultur“.
Welche Perspektiven siehst du denn für die Zukunft der Türkei?
Die interessantere Frage ist, was wir tun können. Wir müssen versuchen, dass wir nicht die Sprache der Rechtspopulisten sprechen. Wenn wir anfangen von „uns“ und „denen“ zu sprechen, zu spalten, dann machen wir es nicht besser. Wir müssen gerade jetzt, so paradox es klingt, die Türkei so viel wie möglich, mit ins Boot nehmen, an uns binden. Ob das strukturelle Förderprogramme sind, Stipendien, Städtepartnerschaften, Austausch usw. Ich sehe auch sehr viel Hoffnung gerade auch in der jungen Generation.
Necati Öziri letzte Produktion „Get Deutsch or die tryin‘ „:
Worum es geht: Arda Yilmaz steht am Grab seines Vaters und erzählt wütend seine türkisch-deutsche Geschichte. Nominiert für den ARD Online Award und hier zum reinhören in der ARD Mediathek oder hier zum Downloaden:
http://mp3-download.ard.de/radio/hoerspieltage/2018/1063862.l.mp3