Über Liebe, Sex und Allah

Im Interview mit Ali Ghandour über sein neuestes Buch

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Schöne Lustknaben, die wie zarte Safranfäden durch die Straßen Kairos wehen und Dichter, die ihnen verfallen. Die muslimisch geprägten Länder waren früher ein Ort erotischer Hochkultur und betörender Sinnlichkeit. Erotik war damals kein Widerspruch zum Glauben.

Der muslimische Theologe Ali Ghandour sprengt in seinem Buch „Liebe, Sex und Allah“ Klischees über die vormodernen muslimischen Gesellschaften und gibt uns einen Einblick in die urbane Geschichte der Muslim*innen, in der gleichgeschlechtliche Liebe und Polygamie noch kein Anlass religiöser Debatten waren, sondern als Selbstverständlichkeiten praktiziert wurden. Wir waren im Gespräch mit Ali Ghandour und haben uns über sein Buch und Liebe & Sex im Islam unterhalten.

Bild: wiewollenwirlieben.de
Bild: wiewollenwirlieben.de

Ali, hat sich dein Wissen aus „Liebe, Sex und Allah“ in deiner Laufbahn als Theologe angesammelt oder meinst du, dass deine eigene muslimische Erziehung ausschlaggebend dafür war?

Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, woher genau ich das Wissen habe. Ich trenne nicht zwischen Arbeit, Freizeit und Privatleben. Denn ich genieße es, wenn alles aufeinander aufbaut und miteinander verschmilzt. Ich verliere mich in der Recherche und dem Wissenserwerb. Die Erkenntnisse, die ich bisher gewonnen habe, bauen aufeinander auf. Mit Sex im muslimischen Kontext beschäftige ich mich seit ungefähr 10 Jahren.

Also war dein persönliches Interesse ausschlaggebend, um „Liebe, Sex und Allah“ zu schreiben?

Es gab verschiedene Gründe dafür. Erstmal mag ich das Thema. Sobald du die Geschichte von Sex bei Muslim*innen studierst, lernst du viel über die Gesellschaften und ihre Denkweisen. Ich bin Theologe und Theologie kann man nur begreifen, wenn man die Menschen versteht. Sexualität ist ein Schlüssel dafür. Wenn heute unter Muslim*innen über Sex gesprochen wird, dann leider oft aus einer normativen Perspektive. Sprich: Was ist erlaubt und was ist verboten.

Kaum jemand spricht noch über Lust und Erotik oder über gesellschaftliche Phänomene wie Prostitution oder Polyamorie und Monogamie. Es wird kaum darüber gesprochen, was muslimische Dichter*innen und Religionsgelehrte über Erotik dachten und wie Muslim*innen früher ihre Sexualität auslebten. Wenn dieses aufklärende Wissen verloren geht, dann geht auch ein Teil der Geschichte verloren. Mit meinem Buch möchte ich dieses Wissen am Leben halten.

„Es gibt keine einheitliche muslimische Lehre. Der Islam ist sehr vielfältig. Es darf etwas Neues entstehen, denn Tradition ist nichts, was in der Vergangenheit liegt und vorgeschrieben ist. Tradition geschieht immer in der Gegenwart und entwickelt sich mit der Gesellschaft.“

Wie haben verschiedene Leute auf das Buch reagiert?

Positiv überrascht! Das meiste Feedback bekomme ich von Leuten im Alter von 18 bis 40 und so gut wie alle sind positiv. Mit einem Shitstorm wurde ich nicht konfrontiert. Ich denke, das liegt daran, dass die Themen und Ideen, die ich behandele, eine reine Wissensweitergabe sind. Das macht das Buch zugänglicher. Niemand wird in eine Schublade gesteckt oder persönlich angegriffen.
Ich zeige den Leser*innen, wie es ungefähr damals war. Was sie damit machen, ist letztendlich ihnen überlassen.

Muslimisch geprägte Staate und Gelehrte müssen weniger kontrollieren, sondern einen angstfreien Raum lassen. Wer über Sex reden will, der darf es tun, wer nicht will, dann auch völlig okay. Wichtig ist nur, dass Individuen nicht mehr aufgrund ihrer sexuellen Identität bewertet und bestraft werden.

Bild: Wiewollenwirlieben.de

Was denkst du, warum in muslimischen Kreisen noch immer nicht offen über Sexualität gesprochen wird?

Dafür gibt es viele Gründe, die ich im Buch ausführlich behandele. Zusammengefasst kann man sagen: Ab dem 19. Jahrhundert konnten sich Muslim*innen nicht mehr natürlich und ohne starken Einfluss von außen entwickeln. Das gesamte Osmanische Reich, aber auch andere muslimische Reiche waren zerbrochen. Die ganzen Regionen, die durch die imperialen Mächte kontrolliert wurden, befanden sich in einer defensiven Lage.

Muslim*innen seit dem 19. Jahrhundert haben zum Beispiel viel Kraft aufgewendet, um dem Vorurteil entgegenzuwirken, sie seien perverse, obszöne Lüstlinge. Die Engländer*innen und Französ*innen waren damals sehr konservativ, das hat die Muslim*innen unter Druck gesetzt.

Durch die Zuwanderung in die Städte ging die urbane Kultur später verloren. Die meisten Einwander*innen kamen aus ländlichen Gebieten und waren eher verklemmt. An dieser Einstellung hat sich seither nicht viel verändert. Wenn wir den Blick auf die Gegenwart richten, sehen wir, dass Religion zu einer Ideologie mutiert ist. Früher hat Religion nicht alles im Leben eines Menschen dogmatisch bestimmt. Es war eher der reine Glaube.

Religion wurde aber ab dem 20. Jahrhundert allmählich zur Politik. Der Staat erzieht nun den Menschen. Wenn das gleiche Wissen überall im Land herrscht, keine Vielfalt erlaubt wird und die herrschende Klasse restriktiv ist, dann wird keine Sexualaufklärung in den Schulen oder Medien angeboten. Die Menschen bekommen dann kaum Input für ihre eigene Weiterentwicklung.

Das schreit nach einer dringenden sexuellen Revolution in muslimisch geprägten Ländern.

Wikipedia
Ein persisches Gemälde von Muhammad Qasim, 1627 mit dem Titel: „Möge das Leben alles, was Sie sich wünschen, von drei Lippen gewähren, denen Ihres Geliebten, des Flusses und der Tasse.“ ©Wikimedia Commons

Von einer Revolution will ich eigentlich nicht reden, denn das wäre wieder ein Machtspiel zwischen den ‚Konservativen‘, die über Sexualität bestimmen wollen und jenen, die entgegenwirken wollen. So entsteht eine Machthierarchie. Ich denke, muslimisch geprägten Staate und Gelehrte müssen weniger kontrollieren und eher angstfreie Räume schaffen.

Wer über Sex reden will, der darf es tun, wer nicht will – auch völlig okay. Wichtig ist nur, dass Individuen nicht mehr aufgrund ihrer sexuellen Identität bewertet und bestraft werden. Ich wünsche mir, dass in Deutschland lebende Muslim*innen einen eigenen Zugang zu ihrer Tradition entwickeln. Damit meine ich nicht die importierte, alte Tradition. Sondern zu ihrer eigenen Tradition, voller Farben und Nuancen.

Das bedeutet also, dass eine neue, muslimische Tradition geschaffen werden darf?

Ja! Denn ganz gleich, über welches Land wir sprechen – sei es die Türkei, Marokko, Senegal oder Deutschland – überall gibt es hunderte Formen, um Glauben, Kultur und Tradition zu definieren. Die muslimischen Traditionen sind sehr vielfältig. Es darf etwas Neues entstehen, denn Tradition ist nichts, was in der Vergangenheit liegt und vorgeschrieben ist. Tradition geschieht immer in der Gegenwart und entwickelt sich mit der Gesellschaft.

Ali, ich war überrascht, als ich auf deinem Blog entdeckte, dass du ein Faible für Animes hast. Erzähl uns mal mehr über dich.

Ich bin ein ganz einfacher, normaler Typ. Ich liebe gute Serien und tatsächlich kenne ich alle One Piece und South Park Folgen. Außerdem steh ich auf Spiele mit geschichtlichem Hintergrund – auf meiner PS4 versteht sich. Ich liebe es, mit Gewürzen und Gerüchen zu experimentieren. Gelegentlich stelle ich Parfüms und Raucherstäbchen selbst her. Das sind die Dinge, mit denen ich mich gerne beschäftige. Du siehst, das Leben eines Introvertierten eben.

Und auf welche Werke von dir dürfen wir uns als Nächstes freuen?

Vielleicht enttäusche ich dich, aber mein nächstes Projekt hat nicht viel mit Sex am Hut. Ich schreibe gerade über die philosophischen Grundlagen der Ethik. Es geht um die Frage, was falsch und was richtig ist und wer über diese Konstrukte überhaupt bestimmt.

Text: Gonca Temurcin

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