Zwischen 1963 und 1983 fanden 1500 armenische Waisenkinder Zuflucht im Istanbuler Stadtteil Tuzla. „Wir haben uns vor Müdigkeit in der Nacht eingenässt“, so beschreibt eines der ehemaligen Waisenkinder die Errichtung ihrer neuen Heimat. Der Zweck des Waisenhauses war es in erster Linie, armenischen Kindern eine Sommerausbildung zu ermöglichen, doch 95% von ihnen waren Waisen. Der Leiter des Waisenhauses war Hrant Küçükgüzelyan, der in den 1950er Jahren in Anatolien nach armenischen Waisen suchte, um ihnen eine Ausbildung in Istanbul zu ermöglichen. In Istanbul gingen diese Kinder zur İncirdibi Armenian Protestant School und lebten bis zur Errichtung des Waisenhauses im Erdgeschoss der Kirche. In jenem Waisenhaus wuchs auch der Berühmte armenisch-türkische Journalist Hrant Dink auf und lernt seine Zukünftige Frau Rakel Dink kennen. Am 5. Juli 1996 schrieb Hrant Dink in der von ihm gegründeten armenisch-türkischen Zeitung Agos:
„Und so verbrachten wir viele Jahre lang die Sommer. Wir fuhren jedes Jahr in das Tuzla-Camp. Die Zahl der Kinder wuchs jedes Jahr. Wir gruben neue Brunnen; die Wassermenge stieg und der Ort wurde grüner. Eines Tages hatte die Wasserpumpe, aus der wir Tag und Nacht mit unseren Händen Wasser pumpten, einen Motor. Im Laufe der Jahre wuchsen die Bäume höher als wir, bedeckten die Gebäude und der Himmel des Lagers ließ die brennende Sonne nicht mehr herein, da wir überall Schatten hatten. Vielleicht mischten sich unsere Stimmen als Kinder mit unserer Arbeit, um das Land zu düngen. Die BesucherInnen waren immer neidisch darauf. ‚Gut gemacht‘, sagten sie alle, ‚gut gemacht.‘“
Im Jahr 1983 wurde das Lager geschlossen und die Urkunde für das Land wurde an den früheren Eigentümer zurückgegeben, obwohl die armenisch-protestantische Kirche von Gedikpaşa, die das Lager besaß und betrieb, rechtliche Schritte unternahm. Das Grundstück hat seitdem mehrmals den Besitzer gewechselt. Obwohl die türkische Regierung 2011 ein historisches Dekret zur Rückgabe von Eigentum unterzeichnete, das Minderheitenstiftungen weggenommen worden war, wurde das Lager zusammen mit Hunderten von anderen Grundstücken nicht zurückgegeben. Der Grundstückseigentümer hatte zunächst versucht, das Camp Armen im Mai 2015 abzureißen, aber der umstrittene Plan wurde auf Eis gelegt, da er sagte, er würde es der Gedikpasha Armenian Protestant Church and School Foundation spenden. Die Bemühungen, das Camp abzureißen, erregten große Aufmerksamkeit, als die Nachricht in den sozialen Medien bekannt wurde. Der Abriss wurde daraufhin gestoppt, als Aktivist*innen und führende Persönlichkeiten der armenischen Gemeinde protestierten und Demonstrationen an dem Ort abhielten.
Camp Armen war die Heimat von über 1.500 armenischen Waisenkindern, die aus den Tiefen Anatoliens zusammengetragen wurden, und es war der Ort, an dem Hrant und Rakel Dink sich kennenlernten, aufwuchsen und heirateten. Das Camp war Heimat für die Waisen und wurde zu ihrem „Atlantis“ so wie Dink beschreibt. Alle Waisenkinder sind ins Ausland ausgewandert, aber wie Hrant Dink schon sagt, das Wasser findet immer seinen Weg in die Risse.
Text: Emre-Can Tan
Credits: hrantdink.org