Holodomor setzt sich zusammen aus den ukrainischen Wörtern holod und mor. Holod bedeutet Hunger und mor Tod. Wörtlich übersetzt heißt Holodomor „Hungertod” und steht für die künstliche Hungerkatastrophe in der ehemaligen Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, dem etwa 4 Millionen Ukrainer*innen zum Opfer fielen.
Der Hungertod fand seinen Höhepunkt in den Jahren 1932 und 1933 und wurde von dem damaligen Diktator der Sowjetunion, Josef Stalin, bewusst herbeigeführt.
Politisch gewollt
Josef Stalin setzte den Hunger ein, um den ukrainischen Freiheitswillen zu unterdrücken.Zuvor hatte er erkannt, dass die kulturelle Anpassung des ukrainischen Volks an das Sowjetregime in den frühen Jahren den Widerstand innerhalb der Bevölkerung mehr entfacht als unterdrückt hat. Außerdem galt das ukrainische Gebiet damals und auch heute als die „Kornkammer Europas”. Stalin wollte die Kontrolle über den gesamten Agrarsektor, um die Entwicklung der Schwerindustrie zu finanzieren.
Chronik
1917: Nach dem Fall der russischen Zarenherrschaft erklärte die Ukrainische Volksrepublik (UNR) ihre Unabhängigkeit.
1922: Die Ukraine wird zwangsweise anlässlich der Gründung der Sowjetunion als Ukrainisch Sozialistische Sowjetrepublik (USSR) integriert. Im Gegensatz zum Zarenreich wird sie als eigene Nation anerkannt, muss sich jedoch der Parteiherrschaft unterordnen.
1928: Stalin führt den 5-Jahres-Plan ein mit dem Ziel einer Kollektivierung der Landwirtschaft und der rapiden Industrialisierung.
1930: Ukrainische Bauern lehnen sich zunehmend gegen die Kollektivierung auf. Stalin antwortet auf die Aufstände mit Diffamierung der Bauern als „Klassenfeinde” und Enteignung. Er zwingt den Rest der Bauern in Kolchosen (=landwirtschaftliche Produktionsgemeinschaften in der Sowjetunion).
1932: Stalin unterzeichnet einen Beschluss, mit dem er sichert, dass der Export eines großen Anteils an Getreidevorräten seine Industrialisierungs- und Militarisierungspläne finanziert.
Verlauf
Der auslösende Faktor zum Holodomor war Stalins Gesetz ,das den Diebstahl sozialistischen Eigentums zu einem Kapitalverbrechen deklarierte. Somit konnten die Bauern, die zwei Jahre in Folge mit einer unterdurchschnittlichen Ernte konfrontiert waren, ihre Ernte nicht zur Eigenversorgung abzweigen. Die Hungersnot, die daraus resultierte, wurde von Moskau ignoriert und es wurden weiterhin große Mengen an Weizen exportiert. Damit war der Holodomor politisch gewollt und die hohe Zahl an Toten wurde bewusst in Kauf genommen.
Folgen
Der Holodomor führte neben einer hohen Zahl an Toten zu intergenerationalen Traumata. Die Hinterbliebenen empfanden Schuld- und Schamgefühle, weil sie einerseits ihre Familienangehörigen nicht retten konnten und andererseits unmenschliche Taten begangen hatten, um überleben zu können. So nahmen Kannibalismus-Fälle vor allem im Jahr 1933 zu- nicht selten innerhalb der Familie.
Aufarbeitung
Bis in die Spätzeit der Sowjetunion wurde der Holodomor tabuisiert. Öffentliche Äußerungen waren verboten und unter der Breschnew-Führung wurde zwar die Hungersnot an der Wolga in Schulbüchern thematisiert, die Hungerkatastrophe in der Ukraine fand jedoch keine Erwähnung.
Erst Anfang der 1990er Jahre war eine historische Forschung über den Holodomor möglich. Die ukrainische Regierung bemüht sich seit der Unabhängigkeit 1991 darum, dass der Holodomor als Völkermord von der Weltgemeinschaft anerkannt wird.
Völkermord
Völkermord wird seit 2002 von den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) strafrechtlich verfolgt. Einige Staaten erkennen jedoch den IStGH nicht an (wie beispielsweise China, die USA und Russland), was die Prävention und strafrechtliche Verfolgung erschwert.
Nach Definition der UN liegt ein Völkermord vor, wenn die Absicht verfolgt wird, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Parallel zum Holodomor wurden zahlreiche ukrainische Intellektuelle verhaftet. Außerdem war der Holodomor keine Folge von Missernten, sondern menschengemacht. Aus diesem Grund kann der Holodomor als ein Völkermord bezeichnet werden.
Gegenwart
In Folge des Angriffskrieges auf die Ukraine 2022 wird der Holomor von immer mehr Ländern als Völkermord anerkannt. In Deutschland wurde er im November 2022 vom Deutschen Bundestag mehrheitlich anerkannt. Der Beschluss markiert die erste deutsche Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus und ist für Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj, den Präsidenten der Ukraine, ein wichtiger Schritt in Richtung einer historischen Gerechtigkeit: „Das ist eine Entscheidung für Gerechtigkeit, für Wahrheit.”
Text: Büşra Koç
Quellen:
https://www.bpb.de/kurz-knapp/taegliche-dosis-politik/515922/bundestag-erkennt-den-holodomor-offiziell-als-voelkermord-an/
https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/Leseprobe_BPB10875_ISBN9783838216539.pdf
https://www.swr.de/wissen/1000-antworten/holodomor-ukraine-100.html
https://www.fr.de/politik/russland-ukraine-holodomor-frankreich-voelkermord-deutschland-eu-92187170.html
https://tvpworld.com/70121851/house-of-commons-recognises-holodomor-as-a-genocide
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/174179/analyse-80-jahre-holodomor-die-grosse-hungersnot-in-der-ukraine/
education.holodomor.ca
zukunft-braucht-erinnerung.de
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-11/bundestag-holodomor-hungersnot-ukraine-voelkermord-anerkennung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F
https://germany.mfa.gov.ua/de/partnership/golodomor-v-ukrayini-1932-1933-rokiv/golodomor-prichini-ta-naslidki
https://www.dw.com/en/west-forgot-holodomor/a-63924400