Wenn Nurgül über den Moment ihrer Rückkehr in ihre Geburtsstadt Pazarcık spricht, bebt ihre Stimme, ihre Augen leuchten. Die Worte fliegen ihr über die Lippen, als sie über den Augenblick redet, auf den sie vierzehn Jahre lang gewartet hat. Zurück in die Türkei, zurück in die kleine, rostrote Stadt nicht weit von der syrischen Grenze. Pazarcık, in der türkischen Provinz Kahramanmaraş (zu Deutsch: heldenhaftes Maraş), ist ein kleiner Ort. Wenn nicht jeder jeden kennt, kennt irgendwer irgendwen, der den anderen kennt. Kurden und Türken leben dort zusammen. Die türkische und die kurdische Kultur verschmelzen. Doch das war nicht immer so.
Nurgül heißt nicht wirklich Nurgül. Den Namen hat sie sich selbst als Pseudonym ausgesucht. Die Vergangenheit hat sie gelehrt, dass sie ihren Namen aus Selbstschutz nicht öffentlich machen sollte. Als Nurgül siebzehn Jahre alt war, war sie politisch aktiv und setzte sich für die Rechte alevitischer Kurden in der Türkei ein. Das Alevitentum ist im Grunde eine islamische Philosophie, die sich auf den Menschen konzentriert und in jedem Menschen das Göttliche sieht. Es gibt verschiedene Auslegungen des Alevitentums, das viele Motive aus dem Schiitischen zieht. Viele Vertreter der sunnitischen Glaubensrichtung erkennen Aleviten nicht als wahre Moslems an. Verschiedene Interpretationen des Islam und unterschiedliche Lebensphilosophien führten in der Geschichte schon zu Konflikten zwischen Aleviten und Sunniten. Alevitische Kurden fühlten sich demnach mehrfach diskriminiert. Erst vor fünf Jahren sollte ein Reformpaket der türkischen Regierung das Verbot der kurdischen Sprache abschaffen.
Fragen über Fragen
Nurgül fand es unfair, dass Unterschiede zwischen zwei Bevölkerungsgruppen gemacht wurden, die sich doch so ähneln. „Wieso kann ich nicht offen zugeben, dass ich alevitische Kurdin bin? Weshalb werden vermeintlich gleichberechtigte Menschen dennoch unterschiedlich behandelt? Warum ist es verboten, die kurdische Sprache zu sprechen?“ Solche und viele weitere Fragen trieben sie an, sich für ihre Rechte und für die vieler anderer einzusetzen. Nurgül nahm an Demos teil und verteilte Flugblätter. Ihr Engagement führte dazu, dass sie, nach einer Festnahme, Anfang 1987 das Land verlassen musste und als politischer Flüchtling in Deutschland Zuflucht suchte. Wieso es damals zu der Festnahme kam, kann sie nicht weiter erzählen.
„Ich wollte die Türkei, meine Heimatstadt, meine Freunde und meine Familie nicht verlassen.“
Wenn sie das sagt, sagt sie es mit Nachdruck. So, als würde sie sicherstellen wollen, dass ihr Gegenüber ihr glaubt. Tagelang hat sie geweint – „bis keine Tränen mehr vorhanden waren“ – als ihr klar wurde, dass sie ihre Stadt und den Großteil ihrer Familie verlassen musste. Um ihre Isolation in Worte zu fassen, schiebt sie hinterher: „Vor mir hat sich eine riesige Wand aufgebaut, die bis in den Himmel reichte. Die Türkei ist dahinter geblieben und ich konnte nicht mal durch einen Spalt hindurchsehen, um mich davon zu überzeugen, ob noch alles an Ort und Stelle ist.“ Ihre Stimme bricht ab. Sie macht eine kurze Pause, schaut auf ihre Hände, entdeckt eine Unebenheit an der Nagelhaut und spielt daran herum.
Angst
Sie sammelt sich und erzählt von ihrer Angst damals in Pazarcık. Der Angst, dass hinter jedem haltenden Auto die Polizei stecken könnte. Der Angst davor, von den eigenen Nachbarn verraten zu werden. Sie erzählt, dass viele Bewohner der Stadt sich davor fürchteten, Opfer von Anschlägen zu werden und deshalb versuchten, die Aufmerksamkeit auf andere Pazarcıkler zu lenken. Viele Menschen, wurden aus Angst um ihr Leben instrumentalisiert und dazu bewegt, schlecht über die eigenen Nachbarn oder sogar Freunde zu sprechen.
In der Provinz Kahramanmaraş kam es zwei Jahre vor dem Militärputsch von 1980 zu Unruhen zwischen links- und rechtsextremen Gruppierungen. Nachdem im Dezember 1978 eine Schockgranate in einem Kino in Maraş explodierte, nahmen die Aufstände ein brutales Ausmaß an. Sowohl das rechte als auch das linke Lager war an tödlichen Anschlägen beteiligt. Auf kurdische Aleviten wurde eine regelrechte Hexenjagd geführt – sunnitische Imame, die Reden gegen Aleviten schwangen und Häuser, die markiert wurden, um den vermeintlichen Feind zu entlarven. Diese Szenen und noch schrecklichere – von Folter und Vergewaltigungen – kann Nurgül nicht weiter beschreiben. Zu belastend sind die Erinnerungen in ihrem Kopf. Sie greift nach ihrem Wasser und trinkt einen Schluck. Es ist eine Zeit, über die sie offensichtlich nicht gerne spricht. Stattdessen erzählt sie von den ersten zwei Jahren in Deutschland, die die schwersten ihrer Zeit im Exil gewesen seien.
„Wenn ich meine Schwester besucht habe, habe ich auf der Bahnfahrt von Krefeld nach Köln immer meine Augen geschlossen und mir vorgestellt, dass ich von Maraş nach Pazarcık fahre.
Ich habe mir die Landschaft vorgestellt, die Geschäfte, die die Straßen säumen. Nur so konnte ich die Zeit, in der ich mich isoliert fühlte, überstehen.“ Vierzehn Jahre lang trug sie den Asylantenstatus mit sich – die deutsche Staatsangehörigkeit erhielt sie erst im Jahre 2000.
In den ersten Jahren sprach sie kaum Deutsch und kannte nur wenige Leute. Sie war abhängig von anderen. Etwas, was ihr nicht gefiel. Heute steht Nurgül auf eigenen Beinen und ist seit fünfzehn Jahren selbstständig und Besitzerin einer Schneiderei. Sie ist die, die anderen die Arbeit abnimmt und nicht mehr die, der geholfen werden muss. Da sie aus eigener Erfahrung weiß, wie schwer es sein kann, in einem fremden Land anzukommen, bietet sie aktiv ihre Hilfe an und ist seit knapp anderthalb Jahren ehrenamtlich als Übersetzerin für Geflüchtete tätig, die neben ihrer Landessprache auch kurdisch sprechen. Sie hilft ihnen beim Spracherwerb, bei Papierkram oder einfach mit einem offenen Ohr. Von ihrer Person geht eine unheimliche Stärke aus.
Sie beschreibt ihre Mutter als Don Corleone –„ohne die Wattebäusche und abgetrennten Pferdeköpfe“, fügt Nurgül lachend hinzu.
Wenn sie lacht, lacht ihr Körper mit. Ihre Schultern zucken, ihr Gesicht erstrahlt und ihr Gegenüber wird sofort dazu animiert, auch den eigenen Körper erbeben zu lassen. Nurgül hat ein Händchen dafür, mit Menschen umzugehen. Im deutschen Bürokratiewust kennt sie sich mittlerweile bestens aus und weiß, welche Handgriffe getan werden müssen, um nicht in Papierbögen unterzugehen. In der kleinen Stadt am Niederrhein, in der sie sich mittlerweile mehr Zuhause fühlt als in Pazarcık, hat sie sich ein gefestigtes Netzwerk aufgebaut. Sie ist in der Gemeinde bekannt und das erfüllt sie mit Stolz. Überall hat sie Kontakte, die ihr wiederum dabei helfen, anderen zu helfen. Wenn sie von ihrem aktuellen Leben erzählt, spricht sie Deutsch. Türkisch redet sie, wenn sie ihre Erinnerungen beschreibt.
Wenn sie heute in die Türkei reist, freut sie sich noch immer auf das Land, das Essen und die Menschen, die sie dort trifft. Ihre Besuche werden jedoch immer kürzer und finden auch nicht mehr jedes Jahr statt.
„Die ersten zwei Wochen sind jedes Mal aufs Neue wunderschön. Ab der dritten Woche vermisse ich mein deutsches Zuhause.“
Sie hat in Pazarcık noch zwei Schwestern und einen Bruder. Aufgrund der aktuellen Regierung und der damit einhergehenden Unterdrückung der Menschen, sind sie für sie mittlerweile der einzige Grund, weshalb sie noch dorthin reist. Der Türkei gegenüber empfindet sie noch immer eine tiefe Verbundenheit, es schmerzt sie jedoch, dass Meinungen nicht frei geäußert werden können und Menschen wieder ihrer Freiheit beraubt werden. Aus diesen Gründen bezeichnet sie die Türkei bewusst nicht mehr als ihre Heimat. Nurgül hat in Deutschland über die Jahre ein Heimatgefühl entwickelt. Sie erzählt mit einem wohligen Lächeln auf dem Gesicht, dass es die Menschen sind, die ihr dieses Gefühl geben. Der Ort selbst spielt dabei keine große Rolle mehr.
Fotos: Privatarchiv