Die kleinste Mensa, in der ich je war, befindet sich im Gebäude der Kunsthochschule für Medien Köln, kurz KHM. Ein paar Stühlchen, ein paar Tischchen, eine Seite Tresen, andere Seite Fensterfront zum Innenhof. Hier haben wir uns mit Halit Ruhat Yildiz verabredet: 1987 in der Türkei geboren und aufgewachsen, ingenieurwissenschaftliches Studium, abgebrochen, dann im Jahr 2011 Umzug nach Deutschland für ein Film- und Fernsehstudium an der KHM. Letztes Jahr war er mit seinem Film Annunciation für den Studenten-Oscar nominiert.
Welche Filme schaust du selbst gern?
Ich würde sagen, am liebsten Filme, die mit Moral und Ethik zu tun haben und die die Natur des Menschen zeigen. Das sind polnische Filme der 80er und 90er Jahre, das sogenannte Kino der moralischen Unruhe, dann iranische Filme, russische Filme. Sie alle thematisieren Gesellschaft und Familie. Das sind aber auch internationale Filme, denn diese Fragen, die dort aufgeworfen und behandelt werden, beschäftigen jeden Menschen auf dieser Welt.
Ist das auch das, was du gern selbst produzierst?
Ja, definitiv. Mich interessieren die Themen Beziehung und Familie und dabei die Diskussion von ungewöhnlichen Themen. Dabei fokussiere ich aber nicht die aufkommenden Emotionen, sondern der Konflikt an sich ist wichtig. Also welche Ebenen beeinflussen den Konflikt: Moralisch, gesetzlich, die inneren Schwächen des Charakters, usw.
Ich lag mal eine Nacht wach, weil ich so unglaublich schlimme Zahnschmerzen hatte. Da habe ich gedacht:
„Ich möchte, dass meine Filme so eindringlich wie starke Zahnschmerzen sind.“
Woher kommt dein großes Interesse an den Themen Beziehung und Familie?
Ich finde, wir sind verdammt viel von sozialen Medien, Netflix und TV-Serien umgeben, die wir sehr schnell konsumieren. Deshalb leben wir, ohne das Leben zu hinterfragen. Wir konsumieren nur. Zudem denken wir überhaupt nicht nach, wie wir leben wollen, sondern wir kopieren das Leben, das viele schon vor uns gelebt haben. Uns sind die Rollen vorgegeben, z.B. wie sich eine Mutter und wie sich ein Vater verhält.
Außerdem sehen wir unsere Kinder, also die leiblichen Kinder, als Eigentum, als Besitz an.
Wenn man Dostojewski liest und seine Texte mit der heutigen Situation vergleicht, versteht man: Es hat sich nicht viel verändert mit den Jahren. Ich möchte diesen Kreislauf mit meinen Filmen unterbrechen.
Kannst du kurz deine zwei Kurzfilme Mitose und Annunciation umreißen?
Es geht in beiden Filmen um das Thema Geburt und um eine versteckte Vergangenheit. Und die Frage ist, was verstecken die Protagonisten und wie kommt das Versteckte am Ende heraus. Und auch, wie viel sie lügen und wie ehrlich sie sind.
Spannend, dass du in beiden Filmen das Thema Geburt als Schwerpunkt gewählt hast. Würdest du auch gern ein Kind zur Welt bringen können?
Nee, eigentlich nicht, weil ich nicht unbedingt ein Kind mit meinen Genen haben muss. Eine Adoption würde auch in Frage kommen.
Du hast gesagt, dass dich dieses Verhalten ärgert, das eigene Kind als Eigentum zu betrachten. Was genau meinst du damit und was ärgert dich daran?
Das eigene Kind als Eigentum anzusehen gibt es erst seit der Herausbildung der Kernfamilie in der Jungsteinzeit. Davor gab es die Ansicht, ein Kind zu „besitzen“so nicht.
Heutzutage denken die Leute alle, dass sie ihr eigenes Kind kriegen wollen und dass nur dieses Kind ihr Kind sein kann. Eine Idealfamilie ist nur mit eigenem Kind denkbar, für die meisten Paare. Manche trennen sich sogar, wenn das nicht möglich ist. Aber stellen wir uns doch mal die Situation vor, die ja schon häufiger passiert ist: Zwei Kinder wurden bei der Geburt im Krankenhaus vertauscht. Nach zehn Jahren bekommen beide Elternpaare Wind davon. Jetzt ist die Frage: Zurücktauschen oder nicht? Und da wird, zumindest für mich, klar:
Elternsein hat nichts mit Genetik zu tun.
Dann ist deine Meinung die der Ärztin in Annunciation, die sagt: „Nicht die DNA ist entscheidend, sondern die Mutterliebe“?
Ja, genau!
Nun entwickeln sich ja in beiden Filmen die Konflikte aufgrund von modernen medizinischen Möglichkeiten, einmal geht es um Organtransplantation und einmal um einen eingefrorenen Embryo. Was ist deine Meinung zu diesen neuen Möglichkeiten?
Ich finde es krass, dass diese Methoden einer so starken staatlichen Kontrolle unterliegen. Man darf z.B. nur unter bestimmten Voraussetzungen Eizellen einfrieren lassen, Leihmutterschaft ist in ganz Europa verboten.
Um schwanger zu werden, kann die moderne Medizin einerseits eine große Chance und Hoffnung sein, aber andererseits auch eine Lüge.
In beiden Filmen stehen die Frauen ja vor der Entscheidung, ein eigenes Kind zu bekommen oder ein fremdgenetisches Kind am Leben zu erhalten bzw. zur Welt zu bringen. Wie würdest du dich an ihrer beider Stelle entscheiden?
Ich würde mich in beiden Fällen für das fremdgenetische Kind entscheiden.
Warum?
Mir geht es um das Unterbrechen des ewigen Kreislaufs.
Ich möchte ein neues Fenster öffnen, ein neues Denken anregen, nicht schon wieder in die alten, vorgegebenen Rollen schlüpfen.
Warum klärst du in den Filmen nicht auf, wie sich diese Personen entscheiden?
Meiner Meinung nach ist es wichtiger, eine Frage zu stellen und damit den Zuschauer zum Selbstdenken und zur Konfrontation mit sich selbst anzuregen, als eine Antwort zu geben. Bei einem längeren Filmformat könnte man allerdings eine Auflösung der Situation in Betracht ziehen, weil man da mehr zeitliche Möglichkeiten hat, die komplexe Situation darzustellen und aufzulösen.
In beiden Filmen haben die Protagonisten einen türkischen und einen deutschen Hintergrund, das wird aber nicht thematisiert. Ich wollte die Charaktere auf keinen Fall stereotypisieren. Jeder, der die Filme sieht, soll jeden Charakter verstehen und sich mit ihm identifizieren können. Nationalität spielt bei diesen Familienkonflikten keine Rolle. Die Situation, in der sich die Protagonisten befinden, kann man in jedes beliebige Land, in jede beliebige Familie versetzen.