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Sprache & Literatur

Feridun Zaimoğlu – Zwölf Gramm Glück

kitap mitap – Die Buchbesprechung in Farbe

„Fünf klopfende Herzen, wenn die Liebe springt“: Feridun Zaimoğlus Zwölf Gramm Glück. Gelesen und besprochen von Ahu in kitap mitap, der neuen Reihe bei renk. über Klassiker und Neuerscheinungen der deutschen Gegenwartsliteratur.

„Malcolm X der deutschen Türken“

Mit Kanak Sprak erlangte Feridun Zaimoğlu 1995 schlagartig Ruhm als „Malcolm X der deutschen Türken“1 und „enfant terrible der deutschen Gegenwartsliteratur“2. Im vergangenen Jahr erschien zum fünfhundertjährigen Reformationsjubiläum mit seinem Evangelio ein historischer Roman, der sich mit Martin Luthers Bibelübersetzung befasst. Das Thema Sprache, insbesondere die Wirkungskraft von Sprachwandel und kreativem Sprachgebrauch in der deutschen Gesellschaft und Kultur, durchzieht das Werk des Kieler Autors somit von seinen Anfängen bis heute.

Zwölf Gramm Glück, erschienen 2004, zählt zu der langen Liste von Prosatiteln, die der 1964 in Bolu geborene Autor zwischen diesen beiden literarischen Auseinandersetzungen mit subversiven Sprachkünstlern veröffentlichte. Mit „Häute“ enthält die Sammlung auch die Kurzgeschichte, für die Zaimoğlu 2003 den renommierten Preis der Jury der Klagenfurter Tage der deutschsprachigen Literatur erhielt. Das Buchcover der Erstausgabe von Zwölf Gramm Glück ziert die Nahaufnahme von etwas, in dem ich ein zerwühltes Bettlaken erkenne. Vielversprechend.

Glück als etwas Messbares

Buchtitel fand ich schon immer faszinierend. Wie Zwölf Gramm Glück deuten? Als eine Anspielung auf die Anzahl der darin enthaltenen Erzählungen? Ein anderer Gedanke: Ich nehme meine Küchenwaage zur Hand und wiege mein gebundenes Exemplar. Das wiegt dreihundertdreizehn Gramm. Ich stolpere gedanklich über die Maßeinheit, Gramm. Glück als etwas Messbares. Glück als etwas Essbares? Glück als etwas Konsumierbares – wie ein Gegenstand oder gar eine Droge? Ist Glück käuflich? Und dann die Menge, zwölf Gramm. Warum so wenig? Weil es so kostbar ist? Weil es gefährdet ist – der leiseste Windstoß und schon sind die zwölf Gramm hinfort geweht?

Eingeteilt sind Zaimoğlus zwölf Erzählungen, und hier findet sich vielleicht ein Vorbote seiner späteren Arbeit zu Luther, in zwei Kapitel: „Diesseits“ und „Jenseits“. Mit sieben Erzählungen überwiegt knapp das Diesseits; der Autor erscheint dem Hier und Jetzt menschlicher Existenz also durchaus zugetan. Das Göttliche scheint angesichts Kurzgeschichten namens „Gottesanrufung I“ oder auch „Gottes Krieger“ dennoch nicht zu kurz zu kommen.

Die Erzählperspektive ist in allen Geschichten an die subjektive Sicht namenloser und wechselnder männlicher Figuren gebunden, die im Zentrum des jeweiligen Geschehens stehen. Durch diese Form der Ich-Erzählung entsteht der Eindruck eines ungefilterten und unvermittelten Zugangs zu all ihren Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen. Ich bin also ganz nah dran, am Mann – zumindest in all seinen Formen, die Zaimoğlu hier imaginiert. So lese ich die Gedanken einer männlichen Figur, dessen Ehefrau vergewaltigt wurde und nun eine dunkle Phase posttraumatischer Belastungsstörung durchlebt. Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit ihrer Depression gegenüber wechseln sich ab mit ergebnislosen Gewaltphantasien im Bezug auf die Täter. Es mündet in komplex verschachtelten Gedankengängen, die wohl kaum laut ausgesprochen werden würden – hier aber gelesen werden können: „Ich will ihr nicht weh tun, ich will nicht, daß ihr jemals wieder Schmerz zugefügt wird – aber am liebsten würde ich ihr einen einzigen Schlag verpassen und ihre Müdigkeit vertreiben“ (81). Brutal, schonungslos und ehrlich.

Die männlichen Figuren, die mir hier begegnen, sind mir teils vertraut und teils verstörend fremd, teilweise irritierend bis hin zu stellenweise abschreckend und manchmal unbedingt einnehmend mit ihrer Verletzlichkeit. Ich lese unter anderem von einem verlassenen suizidgefährdeten Schriftsteller, einem zum Voyeur werdenden Taxifahrer, einem aus seiner Alltagsroutine ausbrechen wollenden Restpostenhändler für Bücher, einem liebestrunkenen Gigolo, einem Selbstmordattentäter auf irdischen Abwegen oder auch einem schwer zu ertragenden Beamten auf Freiersfüßen im mediterranen Badeort. Unbeirrt setzt dieser sein unerwünschtes Balzverhalten fort, seiner verstörenden Logik folgend: „Ein männlicher Einflüsterer gleicht einem Hypnotiseur, der das Pendel lange schwingen muß, bis der Patient endlich in den Schlaf gleitet“ (200).

Zwischen Diesseits und Jenseits

Erst beim Lesen merke ich, dass die Einteilung der Erzählungen in Diesseits und Jenseits auch geographische Unterschiede markiert. Zaimoğlus Erzählungen finden zunächst in deutschen Städten statt, bevor sich das jenseitige Kapitel nicht genauer identifizierten, aber islamisch geprägten Orten zuwendet. Während dabei manche deutlich auf die Türkei verweisen, wirken andere Räume und Begebenheiten phantasmagorisch verdichtet, fast schon märchen-, wenn nicht gar albtraumhaft. Gleich Zerrbildern, die sich orientalistischen Projektionen verweigern.

Eine klare räumliche Grenzziehung zwischen Diesseits und Jenseits wird jedoch, und das ist für mich eine der stärksten Aussagen des Bandes, unmöglich gemacht. In allen Erzählungen finden sich Anspielungen und Überkreuzungen deutscher, türkischer und deutsch-türkischer soziokultureller Merkmale. Sei es durch die Protagonisten selbst, durch ihre Interaktionen mit anderen Figuren oder durch die Rituale und Praktiken, die sie beschreiben. Kulturell erscheinen Diesseits und Jenseits durchtränkt voneinander.

Auffällig ist, wie sich das Thema der Paarbeziehung zwischen Mann und Frau wie ein roter Faden durch alle Erzählungen vom Suchen oder Finden oder Verlieren des Glücks zieht. Über entstehende, gescheiterte oder auch dysfunktionale Beziehungen lese ich hier, über Zweckbeziehungen und über Geschäftsbeziehungen zwischen Prostituierter und Kunde. Wenn auch nicht ausschließlich mit Liebe so erscheint mir Glück oft gekoppelt mit der Sehnsucht nach Anerkennung, Nähe und Intimität – wenn auch nur für eine begrenzte Zeit. In „Gottesanrufung II“ sitzen sich zwei ehemals Liebende nach Jahren in einem Café gegenüber, und in ihrem Schweigen zeichnen sich die Narben gegenseitig zugefügter Wunden ab. „Man könnte meinen, wir führen hier ein Beziehungsgespräch. Wie in den schlechten alten Zeiten“ (101), geht es dem Erzähler dabei durch den Kopf.

Euphorisierend, aphrodisierend, entgrenzend

Am Ende des Buches frage ich mich wieder, was es mit dem Glück auf sich hat in diesem fiktiven Universum Zaimoğlus. Es erscheint relational, wird spürbar in der Begegnung mit anderen. Es erscheint vergänglich. So flüchtig wie ein Augenzwinkern. Es erscheint als ein Versprechen, besonders in Momenten des Sich Verliebens oder erwiderter körperlicher Begierde. „Fünf klopfende Herzen, wenn die Liebe springt“ (11), beschreibt es Zaimoğlu treffend an einer Stelle. Euphorisierend, aphrodisierend, entgrenzend und berauschend kommt es daher, das Glück. Es erscheint willkürlich und urplötzlich.

„Wenn sie mit mir nicht schlafen möchte, bemerkt sie, sie müsse mir absagen. Das ist die Ausdrucksweise ihrer Mutter, an die sie nicht erinnert werden will. Ich bringe den Teller Goudapizza in die Küche, setze mich hin und esse alles auf. Das Schachbrettmuster des Linoleumbodens verschwimmt vor meinen Augen zu einem schmelzenden Spielfeld. Mein Traum: ein Glas Wasser trinken und nach dem letzten Schluck gläubig aufschreien.“ (75)

Am unheimlichsten schließlich deutet sich die Bedeutung von Glück für mich an, wie an diesem Ende der Erzählung „Götzenliebe“, wenn es abwesend ist und eine fast schon körperlich schmerzhafte Sehnsucht danach Figuren und Orte vollends einhüllt. Zwölf Gramm Glück. Vielleicht, weil so wenig davon bereits unsagbar viel ist.

Feridun Zaimoğlu. Zwölf Gramm Glück: Erzählungen. 3. Auflage. Köln: Kiepenheuer & Witsch. 2004.

Credits

Text: Ahu Tanrısever

Buchcover: Kiepenheuer & Witsch

1 Lottmann, Joachim. „Ein Wochenende in Kiel mit Feridun Zaimoglu, dem Malcolm X der deutschen Türken.“ Die Zeit. 14. November 1997.
2 Mein, Georg. Erzählungen der Gegenwart: von Judith Hermann bis Bernhard Schlink. München: Oldenbourg, 2005. S. 111.

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