Die Stadt tanzt!

Wie europäische Volkstänze in Istanbul Hoffnung machen

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Dies ist eine kleine Geschichte über Aufbruch, Gemeinschaft und Hoffnung in einer Zeit, in der sonst von der Spaltung der türkischen Gesellschaft die Rede ist und in der Nachrichten aus Istanbul häufig von Unsicherheit und Terror handeln. Aber zuallererst ist es die Geschichte zweier Mädchen, die tanzen lernen.

Im Frühjahr 2014 reist Esra Hızır von Istanbul aus nach Ljubljana in Slowenien, um dort ein ERASMUS-Auslandssemester zu beginnen. Sie spricht kaum Englisch und hat Schwierigkeiten, Kontakte zu knüpfen – dann findet sie diese Tanzgruppe. Sie tanzen Balfolk, traditionelle Paar- und Kreistänze aus Europa, zu fröhlicher Livemusik mit Gitarre, Akkordeon und Geige. „Vorher habe ich gar nicht getanzt, nie. In Ljubljana dann jeden Tag“, berichtet Esra. „Vielleicht konnte ich mich nicht so gut mit den Leuten unterhalten, aber ich konnte mit ihnen tanzen.“

Als Esra nach einem halben Jahr nach Istanbul zurückkehrt, fühlt sie sich leer. „Ich musste tanzen. Aber in der Türkei war Balfolk überhaupt nicht bekannt.“ Stattdessen besucht sie eines Tages einen Workshop für brasilianischen Forró-Tanz. Dort lernt sie Anna Marquer-Passicot kennen. Die Französin ist im Herbst 2014 nach Istanbul gezogen und auch sie hat durch Balfolk ihre Liebe zum Tanzen entdeckt: „Da habe ich gerade in Lissabon, in Portugal gelebt. Mir war Tanzen in der Öffentlichkeit vorher immer peinlich. Aber beim Balfolk war das anders.“ Bald beginnt Anna mit einem Freund aus Frankreich improvisierte Balfolk-Abende im Gezi-Park zu veranstalten und Esra stößt dazu.

Europas Volkstänze kommen nach Istanbul

Was steckt hinter diesem Tanzstil, der Anna und Esra so begeistert? Balfolk entsteht zur Zeit der europäischen Jugendbewegung im Frankreich der 1970er Jahre. Die französischen 68er lieben nicht nur amerikanischen Folk, sondern entdecken auch ihre eigene Volkskultur wieder. Sie lassen traditionelle Musik und regionale Volkstänze neu aufleben, deren Wurzeln mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen und die oft durch Tanzformen aus anderen Regionen Europas wie Polen, Deutschland und England beeinflusst sind. Über die französischen Landesgrenzen hinweg breitet sich die Balfolk-Bewegung in den kommenden Jahren nach Spanien, Portugal, Italien, Belgien usw. aus. „Die Balfolk-Musik ist mitreißend und macht glücklich“, erklärt Anna. „Außerdem sind die Choreographien einfach und die Tänze schnell gelernt. Man hat sofort Spaß und es bleibt genug Raum für Improvisation, um seine eigene Persönlichkeit im Tanz auszudrücken.“

40 Jahre später, im Frühling 2015, erreicht Balfolk dann endlich Istanbul. Nach einigen Tanzabenden im Gezi-Park finden Anna und Esra eine Bar in Beyoğlu, die bereit ist, der neu gegründeten Gruppe einmal wöchentlich ihre Räume zur Verfügung zu stellen. Zusammen geben sie jetzt jede Woche Tanzkurse und auch die erste Balfolk-Band Istanbuls, Deli Reçel (zu Deutsch: Verrückte Marmelade), gründet sich in dieser Zeit. Zu den Kursen und anschließenden Tanzpartys kommen heute bis zu hundert Leute. Kein Wunder also, dass sich die Bars inzwischen um ein Balfolk-Event in ihrer Location reißen. Im Sommer verlegt die Gruppe ihre Veranstaltungen nach draußen in die Parks der Stadt. Auch ein kleines Festivalwochenende haben sie schon organisiert mit Workshops für neue Tänze, Tanzabenden mit verschiedenen Bands und Jamsessions für Balfolk-Musiker.

Getanzte Hoffnung

Die Balfolk-Kultur ist in Istanbul angekommen und Esras und Annas Begeisterung auf die Istanbuler Tanz-Community übergesprungen. „Balfolk ist für die meisten Türken ganz neu“, sagt Esra. „Sie kennen vielleicht Tango oder Swing, aber da muss man viel lernen, bevor man wirklich loslegen kann. Wenn du das erste Mal zum Balfolk kommst, kannst du am Ende des Abends schon vier bis fünf verschiedene Tänze tanzen.“ Anna fügt hinzu: „Unsere Partys sind auch immer soziale Events. Die Leute mögen die fröhliche Stimmung und das Gemeinschaftsgefühl“. Die meisten Tänzer kommen regelmäßig. Viele sind junge, türkische Berufstätige, einige internationale ERASMUS-Studenten sind auch dabei. Was die Initiatorinnen besonders freut: Balfolk hat auch über die organisierten Events hinaus in Istanbul Fuß gefasst. So treffen sich Balfolker zum Beispiel auch privat zum Picknicken und tanzen dann zusammen.

Doch für Esra hat Balfolk in Istanbul über den kulturell-musikalisch-sozialen Austausch hinaus noch eine andere, besondere Bedeutung. Die Psychologie-Studentin beschreibt die therapeutische Wirkung der Balfolk-Kreistänze: „Alle stehen im Kreis gleich weit voneinander entfernt, alle sind Individuen aber sie halten sich an den Händen und sind so miteinander verbunden, niemand ist allein. Alle sehen einander und wenn sie sich zu fröhlicher Musik bewegen, sehen sie einander lachen. Es passiert gerade so viel in der Türkei, wir brauchen so etwas! Wir brauchen gemeinsame Momente der Freude.“ Wenn die Balfolker am Bosporus in Moda oder am Galataturm tanzen und alle Umstehenden einladen, mitzumachen, können Vorurteile abgebaut werden, ist Esra überzeugt.

Für die Zukunft hofft die Gruppe deshalb, ein großes Open-Air-Festival veranstalten zu können. „Große Menschenansammlungen sorgen in der Türkei hauptsächlich für Misstrauen und Angst. Wir wollen zeigen: Es geht auch anders“ sagt Esra und fügt hinzu: „Ich will nicht das große Wort Frieden bemühen. Aber Balfolk kann etwas verändern. Daran glaube ich.“

Wenn Ihr selbst gerade in Istanbul seid und Euch auch vom Balfolk begeistern lassen wollt, dann findet Ihr hier alles, was Ihr wissen müsst.

Und so sieht das ganze dann aus:

 

Text: Tabea Becker

Fotos: Anna Marquer-Passicot, Emanuelle Correani (Porträt Anna), Özüm Baykaş (Porträt Esra)

Video: Elsa Ginoux Dönmez

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