Auf meinem langen Pendelweg von der Universität nach Hause sitze ich in der Bahn und lasse den Tag Revue passieren. In dem Moment ruft mich meine Schwester an und wir tauschen uns über unseren Unitag aus. Wir starten das Gespräch für gewöhnlich auf Türkisch – da das unsere Muttersprache ist, hat sich das als üblich etabliert. Im Laufe des Gesprächs kommen wir auf unsere Vorlesungen zu sprechen und berichten gegenseitig voller Faszination von den neuen Inhalten.
Ganz unbewusst und ohne Intention spreche ich auf Deutsch weiter – ist ja unsere andere Muttersprache. Außerdem wüsste ich nicht, wie ich „Semantik und Pragmatik“ auf Türkisch zum Ausdruck bringen sollte. Aber eines entgeht mir nicht: Ich habe in der Bahn Aufmerksamkeit erregt und es richten sich einige Blicke zu mir herüber. Die Studentin, die den Anschein erweckte, Türkisch zu sprechen, spricht auf einmal auch Deutsch? Sehe ich da etwas verwirrte Blicke?
Stolz grinse ich in mich hinein – willkommen in Deutschland meine Mitbürger*innen, das ist erst eine Facette unserer reichen Kultur und ich liebe sie. Das hat bestimmt jede*r mindestens einmal erlebt. Schließlich ist in einer Gesellschaft, die reich an verschiedensten Kulturen und Sprachen ist, solch eine Erfahrung fast unvermeidbar. Wer auf der Königstraße in Stuttgart läuft, wird von einer Harmonie variierender Sprachen – sei es Türkisch, Deutsch, Englisch, Italienisch, Griechisch oder Arabisch – begleitet.
Ein alltäglicher Sprachmix – Die „Komposition Deutschlands“. Ungewollt und doch bewusst tragen wir alle zu ihr bei und verschönern ihren Klang.
Zwei Sprachen in einem Satz
Ich nenne das „die Komposition Deutschlands“. Ungewollt und doch bewusst tragen wir alle zu dieser kulturellen Komposition bei und verschönern den Klang. Wer hätte gedacht, dass sich so sehr unterscheidende Sprachen, sei es phonetisch, syntaktisch oder lexikalisch, so gut zusammen anhören können. Ich jedenfalls sehe diese Komposition als Privileg für mich, denn ich durfte gleich mit zwei Muttersprachen aufwachsen.
Noch schöner ist, dass viele die Mehrsprachigkeit mit mir teilen und wir eine eigene Wellenlinie gefunden haben, um zu kommunizieren – mit Code-Switching! Das mag ein sehr fremder Fachbegriff für viele sein, aber angewendet hat es jede*r bilingual Aufgewachsene, das garantiere ich. Code-Switching ist nichts anderes als zwei Sprachen zu mischen, um auf diese Weise eine Kommunikation zu ermöglichen. Es funktioniert tatsächlich beide Sprachen in einen Dialog einfließen zu lassen und verstanden zu werden.
„Anne, Fahrrad fahren yapabilir miyim?“, fragte ich als Kind eines Tages meine Mutter. Die Frage bedeutet auf Deutsch: „Mama, darf ich Fahrrad fahren?“. Die erste Antwort meiner Mutter bezog sich aber nicht auf meine Frage. Sie wies mich darauf hin, mich für eine der beiden Sprachen zu entscheiden und die Frage bitte noch einmal einsprachig zu stellen. „Warum?“, fragte ich, „du hast mich doch verstanden…“. Die schlaue Antwort meiner Mutter war es, die mich bis heute zum Nachdenken angeregt hat:
Ja, ich habe dich verstanden. Aber wenn du dich daran gewöhnst, hast du später Schwierigkeiten, dich durchgehend in einer Sprache auszudrücken. Denke an deine Freunde, die nur deutsch sprechen oder deine Verwandtschaft, die nur türkisch spricht.
Verborgener Schatz
Da wusste ich schon, es sind die fürsorglichen Wörter meiner Mutter, die sich Sorgen macht, dass ich später Kommunikations- und Ausdrucksprobleme haben könnte. Heute kann ich von mir behaupten, dass ich die Fähigkeit dazu habe, mich in beiden meiner Muttersprachen frei ausdrücken zu können und ich dennoch manchmal gerne mische. Warum denn auch nicht, das ist eine eigene Kunst an sich!
Bis zu meinem Studium der Computerlinguistik war ich mir des Schatzes unserer Sprachen nicht bewusst. Erst nachdem ich zahlreiche Vorlesungen zu Grammatiken und der Diversität der Sprachen gehört habe, fiel mir auf, was für ein Glück ich habe, mit zwei Muttersprachen aufgewachsen zu sein. Im weiteren Verlauf meines Studiums, als ich meine Gewichtung auf Code-Switching setzte, wurde mir eines bewusst: Es ist eine Kunst, zwei so verschiedene, ja sogar gegensätzliche Sprachen in einem Satz zu verwenden, die Grammatik zu kombinieren, die Regeln des einen auf die andere anzuwenden.
Noch ist kein automatisches Computersystem im Stande, unseren gemischten Sprachgebrauch logisch zu verstehen – das habe ich mir zum Fazit meines Studiums genommen. Da dieses Fazit aber nicht zufriedenstellend für mich ist, habe ich mein eigenes formuliert: Es ist das Sprachgefühl – das Gefühl, sich nicht entscheiden zu müssen und sich beim Kommunizieren keine Grenzen zu setzen.
Das Sprachgefühl kreiert eine Deutsch-Türkische Sprache, die nur Menschen mit demselben Sprachgefühl verstehen können. Das ist ein Code, ein Phänomen, ein Eintauchen in ein einzigartig kombiniertes Lexikon. Es ist das schöne Gefühl, das mich daran erinnert, frei und unbeschränkt zu sein.
Text: Sevde Ceylan
Foto: Ebru Güner