Der eine Mann hatte blondes Haar, hinten lang genug um seinen Hals zu bedecken und vorne kürzer, sodass es in seine Stirn fiel. Er grinste selbstbewusst und trug einen rosafarbenen Trainingsanzug. Der zweite Mann hatte langes schwarzes Haar. Er trug legere Kleidung und an seinem Hals hing eine goldene Kette mit dem Schriftzug „Nora“. Er saß mit einem angewinkelten Bein da und trug schwarze, glänzende Schuhe. Kadriye schmolz dahin, als sie ihre Popsongs hörte, und sie war froh, dass ihre Mama ihr erlaubte, dieses Poster in ihrem Kinderzimmer aufzuhängen. Aber Kadriye hatte die Rechnung ohne ihren Vater gemacht. Ihm war Kadriyes Schwärmen für dieses „Modern Talking“ einfach zu viel. Eines Tages, als Kadriye in der Schule war, nahm er einen Stift, ging in ihr Zimmer, übermalte die Augen der beiden Sänger und ruinierte so das Poster. So viel Temperament lag in der Familie!
Kadriye lebte mit ihrer Familie in einem Dorf in der Türkei und war 14 Jahre alt, als sie sich in das deutsche Musikerduo verliebte. Sie war eine gute Schülerin, eine liebevolle Tochter und eine abenteuerlustige junge Frau. Tatsächlich waren Kadriyes Eltern verrückte Ideen von ihr gewöhnt. Als sie sich einen Undercut rasierte, lächelten ihre Eltern. „Ich finde, es sieht cool aus!“, sagte Kadriye. Als sie einmal mit einem Kopftuch nach Hause kam, lächelten die Eltern wieder. „Ich gehe nicht mehr zur Schule, ich bin bereit zu heiraten!“, sagte sie. Als die Familie mittlerweile in Istanbul lebte, und Kadriye mit ihrem iranischen Verlobten nach Hause kam, lächelten die Eltern wieder. „Wir heiraten und ziehen nach Berlin!“, sagte sie. Sie war erst 18, aber ihre Eltern unterstützten ihre Entscheidung.
Ihr Vater war Schuhputzer und eher konservativ eingestellt, und ihre Mama war eine Hausfrau, deren liberaler Erziehungsstil ihren Mann oft in den Wahnsinn trieb. Am Ende traf Mama jedoch die Entscheidungen, und Kadriye lernte, immer nach einem Gleichgewicht zwischen Tradition und Moderne zu suchen. Diese Lektion nahm Kadriye mit nach Berlin. Vor ihrer Heirat hatte sie nie daran gedacht, zu migrieren, denn sie war in der Tat glücklich in der Türkei. Sie plante eigentlich, Anwältin zu werden. Außerdem lebte hier in der Türkei ja ihre Familie. Aber sie hatte sich verliebt und deswegen änderte sie ihre Pläne. Europa, so hatte sie gehört, sei liberal und fortschrittlich. Das war eine perfekte Ergänzung für Kadriye. In Deutschland würde sie endlich in der Lage sein, echtes „Modern Talking“ zu machen!
Wie viele Deutsche haben blonde Haare?
Das Schwimmbad war der beste Ort, um heiße Tage in Istanbul zu verbringen. Kadriye saß am Beckenrand, mit ihren Füßen im Wasser, und träumte von ihrer Zukunft als Jurastudentin. Sie war 18 Jahre alt, hatte die Schule gerade beendet und viele Fragen waren offen. An welche Universität sollte sie gehen? Welche Spezialisierung wählen? Wird sie dort die Liebe ihres Lebens treffen? Familiengründung war ihr wichtig, deshalb dachte Kadriye bei Zukunftsfragen auch automatisch an eine Familie. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr zukünftiger Mann zufällig am selben Ort war wie sie und sich bereits in sie verliebt hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie bald heiraten und zusammen nach Berlin migrieren würden.
Die Entscheidung, nach Deutschland zu migrieren, fiel spontan nach Kadriyes Heirat. Als kleines Mädchen hörte Kadriye, dass die deutschen Straßen sauber waren, und Sauberkeit gehörte zu ihren Lieblingsdingen. Als junge Teenagerin war sie in das deutsche Musikerduo „Modern Talking“ verknallt, und – richtig geraten – alles Moderne gehörte auch zu ihren Lieblingsdingen. „Ich werde neue Welten entdecken, lass’ es uns tun!“, dachte Kadriye beim Packen ihres Koffers.
Verblüfft
In Deutschland angekommen, ging es direkt nach Kreuzberg, ein multikulturelles Stadtviertel in Berlin. Kadriye erwartete majestätische Gebäude, moderne Einkaufszentren und romantische Parks, in denen man mit der Familie und Freunden spazieren gehen konnte. Sie erwartete, Freunde zu finden, die wie Dieter Bohlen aussahen, Deutsch zu lernen und ihr neues Zuhause in Deutschland aufzubauen. Allerdings wurden einige ihrer Erwartungen nicht erfüllt. Majestätisch? Sie wohnte in der Oranienstraße, wo während des Krieges viele Häuser zerstört und in der Nachkriegszeit günstige Wohnungen gebaut worden waren. Die zwei Kilometer lange Straße war auf beiden Seiten von hohen, langweiligen Gebäuden in grau und beige gesäumt. Romantisch? Der Görlitzer Park war verschmutzt und im besten Fall abenteuerlich. Modern? Die Läden waren winzig und vollgepackt mit alkoholischen Getränken und Snacks mit Schweinefleisch. Menschen mit blonden Haaren? Deutsche waren nicht immer blond. Unter ihren Nachbarn begegnete Kadriye im ersten Monat nur einer einzigen blonden Frau; ansonsten traf sie viele dunkelhaarige Menschen, darunter auch viele Türken.
Kadriye hatte oft das Gefühl, dass sie noch in Istanbul war, nur eben eine kleinere Version davon, die sich im Herzen von Berlin Kreuzberg befand. Und sie war mit diesem Gefühl nicht allein: Andere Leute nannten die Gegend sogar „Little Istanbul“. Weit weg von ihrem geliebten, großen Istanbul lernte Kadriye, mit der altmodischen Seite ihrer eigenen Kultur zusammenzuleben – und wie sie trotzdem ihr Leben rocken würde.
Bedingungslose Liebe ist real!
Aylins Liste mit allem, was sie an ihrer Mutter liebt, ist ellenlang. Die Liste reicht von Humor, Offenheit und Warmherzigkeit bis zu der Art, wie ihre Mama kocht: „Einige Leute müssen die Tomatensauce an den Wänden sehen, um zu fühlen, dass sie kochen, aber nicht bei meiner Mama. Sie putzt beim Kochen!“ Am liebsten hat Aylin an ihrer Mama jedoch, dass Kadriye sie nie einsperren wollte, sondern sie immer hat machen lassen.
Bedingungslose Liebe ist seit drei Generationen eine zentrale Eigenschaft der Frauen in Kadriyes Familie.
Kadriyes Mama wuchs in einem Dorf in der Mitte der Türkei in einer sehr konservativen Gesellschaft auf. Sie beschloss trotzdem, ihre Kinder liberal zu erziehen, und brachte ihnen bei, sich in jeder Situation selbst ein Urteil zu bilden. Als die 18-jährige Kadriye sich entschied, nach Berlin zu migrieren, unterstützte ihre Mama ihren Entschluss. Trotz der großen Entfernung wusste Kadriye, dass ihre Mama immer für sie da sein würde. Und so war es auch jedes Mal, wenn Kadriye zu ihren Eltern nach Istanbul zurückkehrte.
Mit jungen 20 Jahren musste Kadriye bereits ein neues Leben in Deutschland, eine Mutterschaft, eine Ehe und eine weit entfernte Familie balancieren. Es war ein anstrengender Kampf. Als Kadriye es nicht mehr ertragen konnte, packte sie ihre Sachen und flog mit ihren beiden Kindern in die Türkei. In Istanbul schenkte die Liebe und Fürsorge ihrer Mama Kadriye die Kraft, nach Berlin zurückzukehren und es wieder zu versuchen – jedes Mal. Letztendlich fand Kadriye, dass Deutschland als Heimat die beste Wahl für ihre Kinder war. Aus diesem Grund blieb sie auch nach dem Ende ihrer Ehe in Berlin, um ihre Kinder dort großzuziehen und wieder neu anzufangen. Sie entschied sich für eine Ausbildung in der Pflege. „Typisch Migrantin, also“, sagt Aylin dazu, „aber heute sitzt sie auf der anderen Seite des Tisches.“ Kadriye hat hart gearbeitet und besitzt inzwischen ihren eigenen Pflegedienst mit über fünfzig Mitarbeitenden.
Kadriyes Kinder sind inzwischen erwachsen und haben das Haus verlassen. Aylin glaubt:
„Es ist jetzt meine Verantwortung, meine Mama zu entertainen, und es macht mir Spaß, mit ihr viel Zeit zu verbringen. Sie ist unglaublich. Sie ist der Mittelpunkt meiner Welt.“
Aylins Worte für Kadriye würden in Sekundenschnelle einen Eisberg zum Schmelzen bringen. Und weil großartige Migrant Töchter das Ergebnis von großartigen Migrant Mamas sind, rockt Aylin heute ihr Unternehmerinnenleben mit dem türkischen Temperament ihres Großvaters, dem liberalen Geist ihrer Großmutter und der bedingungslosen Liebe ihrer Mama.
Als meine Mama lernte, dass deutsche Kinder sich als Tomate verkleiden.
Zu Fasching kaufte Kadriye einen Overall für Aylin. Er hatte Streifen, einen flauschigen Schwanz und eine Kapuze mit Tigerohren. Eine große schwarze Nase rundete das gelungene Kostüm ab. Aylin ging stolz mit ihrer Mama zur Schule und traf unterwegs einen Freund in rotem Pullover, roter Strumpfhose und mit einer roten Nase. „Ich bin eine Tomate!“, sagte er. „Eine 1 für Kreativität, aber eine 6 für die Umsetzung“, dachte Aylin.
Und wo ist dein Kopftuch?
In Kadriyes Stadtteil Kreuzberg lebten viele Menschen türkischer Herkunft. Auf den Straßen war es üblich, türkische Spezialitäten wie Börek, Gözleme, Lahmacun neben Pizza Margherita und Bratwurst zu finden. Man sah überall Männer, die zusammensitzen und traditionellen türkischen Tee genießen. Es war eine bunte Mischung aus verschiedenen Kulturen, Sprachen und Kleidung. Man sah auch viele türkische Frauen mit Kopftüchern, langärmeligen Oberteilen, langen Röcken und bodenlangen Mänteln. Dieser Kleidungsstil entsprach der Vorstellung einer typischen Türkin. Andere türkische Frauen trugen Hose und Bluse und bedeckten ihre Haare nicht, genauso wie Kadriye. Diese Frauen waren ebenso Teil der türkischen Realität.
Während ihrer Arbeit als ambulante Pflegerin erzählte Kadriye den Patienten früher oder später von ihrem Herkunftsland. Zu oft war die Reaktion: „Wo ist dein Kopftuch?“ Manchmal erwähnte Kadriye auch, dass sie geschieden war, und zu oft kam die Frage: „Kannst du dich als Türkin überhaupt scheiden lassen?“ Diese Fragen haben Kadriye natürlich verletzt und ihr das Gefühl gegeben, die Türkin ohne Ehemann und Kopftuch zu sein, die nicht zu den Vorstellungen der Menschen passte.
Die Jahre vergingen und Kadriye verbesserte ihr Deutsch, bis sie es schließlich wie eine zweite Muttersprache beherrschte. Sie heiratete auch wieder, dieses Mal einen Deutschen. Ob er blond, blauäugig und groß war? Nicht wichtig. Inzwischen hat sich Kadriyes Vorstellung eines typischen Deutschen erweitert: Vielleicht blond oder vielleicht auch nicht, vielleicht groß oder vielleicht auch nicht, aber definitiv pünktlich hat der typische Deutsche zu sein!
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Dieser Text ist in dem dazu gehörigen Buch „Mama Superstar“ erschienen. Das Buch erzählt die Geschichten von elf Frauen und ihren Migranten-Müttern, die als echte Alltagsheldinnen in Deutschland leben.
Durch die Nominierung für den Deutschen Integrationspreis 2019 – eine Kombination von Crowdfunding und Stiftungsförderung – fiel die Entscheidung, aus dem zweiten Buch ein „Community-Projekt“ zu machen. Die Crowdfunding-Kampagne dazu startet am 7. Mai 2019 um 12.00 Uhr, auf Startnext unter: www.migrantmama.com/startnext