Er war der vielleicht innovativste Dichter der Türkei: Orhan Veli. Und auch der eigenartigste. In seinem ersten Lebensjahr fürchtete er sich vor Fröschen. Mit zwei Jahren zog er in die gurbet (dt: Fremde). Seine erste Bekanntschaft mit Rakı machte er mit 18 Jahren. Spinat liebte er. Materielle Dinge waren für ihn ohne Belang. Essenziell hingegen waren der blaue Himmel, das Meer, der Schnaps. Seinen Durst und seine Einsamkeit löschte er mit Liebe und Leidenschaft, aber vor allem mit Literatur. Sein Äußeres beschrieb er als „formlos“. Heftig verliebt war er auch, doch geheiratet hat er nie. Und wie gerne wäre er ein Fisch in einer Flasche Schnaps gewesen.
Einfach und doch fremdartig
So nahbar und ehrlich beschreibt Orhan sein bescheidenes Leben. Einfach und garip (dt.: fremdartig), sind Attribute, die Orhan Velis Dichtkunst charakterisieren. Fremdartig, weil sie anders ist, ungewohnt, kurios, ordinär, wertvoll. Er zählt zu den beliebtesten und meist gelesenen Dichtern der Türkei. Geboren im April 1914 und aufgewachsen in Istanbul, entdeckte er bereits im Grundschulalter seine Liebe und Leidenschaft für die Dichtkunst und fing an, selbst Gedichte und Theaterstücke zu schreiben. Als Schüler kam er in Obhut seines Lehrers Ahmet Hamdi Tanpınar, einer der bedeutendsten Schriftsteller der türkischen Moderne.
Ich höre Istanbul,
1933 begann er das Studium der Philosophie an der Universität Istanbul, das er jedoch bereits nach zwei Jahren abbrach. Im selben Jahr wurde Veli als Beamter bei der Hauptverwaltung der Post in Ankara eingestellt. Und wurde schließlich Soldat. Mit 22 Jahren veröffentlichte er seine ersten Gedichte in der Zeitschrift Varlık (Existenz), verfasst nach der damals herrschenden Mode in den silbenzählenden Metren der türkischen Volkslyrik-Tradition. Doch schon bald wandte sich Veli von dieser traditionellen Dichtkunst ab, die verschnörkelt und belastet mit unnützen und altbackenen Metaphern und Symbolen, für ihn Unnatürlichkeit und zugespitzte Trivialität bedeutete.
meine Augen geschlossen.
Vom Schock zur Bewunderung
Zusammen mit seinen Freunden Melih Cevdet Anday und Oktay Rıfat Horozcu revolutionierte er die türkische Dichtkunst und ebnete den Weg zu einer neuen Ära. 1941 erschien der gemeinsame Gedichtband Garip (fremdartig), der für gewaltigen Wirbel in der Lyrikszene sorgte. Die an die althergebrachte lyrische Tradition gewohnten Pupillen waren schockiert. Man warf Veli vor, die Dichtkunst zu Grunde zu richten und zu verunglimpfen. Manch andere Kritiker lobten seine innovative und bahnbrechende neue Ausdrucksform. Auch das türkische Leserpublikum begrüßte Velis Bruch mit der Tradition und die naiv-humoristischen Nuancen seiner Gedichte, die sich vor allem durch ihre lakonische Kürze auszeichneten. Durch Veli entwickelte sich ein neues, befreites, emanzipiertes Verhältnis zur Sprache:
„Unser Problem ist die Suche nach einer Ästhetik der Mehrheit. Diese Ästhetik gilt es durchzusetzen. Es genügt nicht, neue Lehren in alte Formen zu zwängen.“
„Wir müssen alles wegwerfen, was uns die alte Literatur gebracht hat, die unsere Ästhetik und unsere Absichten bis heute bestimmt. Wenn das möglich wäre, so müßten wir sogar die vorgeprägte Sprache abschaffen, die uns zwingt, beim Dichten mit den alten Wörtern zu denken.“ Das Weben einer neuen poetischen Struktur, losgelöst vom üppigen Ballast, soll die ganze Bevölkerung berühren und sie zum Nachdenken anregen und einladen.
Dichtkunst für alle
Der Rezipient soll nicht mehr nur die privilegierte Oberschicht sein. Nicht die Minderheit, aber die Mehrheit sollen die Gedichte ansprechen. Das traditionelle Versverständnis wird dem Erdboden gleichgemacht; anstelle einer pompösen Versdichtung, aufgeladen mit Metaphern, wird Schlichtheit angestrebt, statt Starre und Rigidität wird Platz geschaffen für Spontanität und Natürlichkeit. Eine Prise Hohn, ein Quäntchen Spott und eine gesunde Portion Humor dürfen auch nicht fehlen.
Istanbul hat er seine schönsten Gedichte gewidmet. Die Stadt, die ihn inspiriert, ihn zum Grübeln gebracht, ihm Freude, Sehnsucht und Melancholie geschenkt hat. So heißt es in seinem vielleicht bekanntesten Gedicht:
Ich höre Istanbul
Ich höre Istanbul, meine Augen geschlossen.
Zuerst weht ein leichter Wind,
Leicht bewegen sich
Die Blätter in den Bäumen.
In der Ferne, weit in der Ferne.
Pausenlos die Glocke der Wasserverkäufer.
Ich höre Istanbul, meine Augen geschlossen.
In manchen seiner Gedichte hört man eine Melancholie heraus, die sich jedoch nie zu einer Hoffnungslosigkeit entfaltet. Trotz anhaltender Geldnot und beruflicher Niederlagen hat Veli nie Trübsal geblasen. Nie dem Leben den Rücken gekehrt.
Nach seiner Militärzeit arbeitete er im Übersetzungsbüro des Erziehungsministeriums. Aufgrund der autoritären, antidemokratischen Atmosphäre hielt es Veli nicht lange aus und kündigte auch diese Stelle. Stattdessen wandte er sich wieder der Literatur zu und gab ab 1949 die Literaturzeitschrift Yaprak heraus. Um diese Zeitschrift produzieren zu können, heißt es, lief er in Lumpen. Nach nur 28 Ausgaben musste er sie jedoch einstellen. Enttäuscht zog er noch im selben Jahr nach Istanbul zurück. Während eines Aufenthalts in Ankara stürzte Veli in eine ungesicherte Baugrube. Er erlag wenige Tage später, am 14. November 1950, einer Gehirnblutung und verabschiedete sich von seiner geliebten Welt, seinem Leben, seiner Literatur.
Die Schönheit im Gewöhnlichen
Für Veli bedeutete die Literatur das Leben. So zeugen auch seine Gedichte von seinem überaus lebensfrohem, naiv-humoristischem Charakter, er bewunderte und schätzte die einfachen Dinge des Lebens. Wenn etwas seine Gedichte auszeichnet, dann ist es seine Beobachtung alltäglicher Kuriositäten. Er erkannte, dass es die gewöhnlichsten Landschaften, Menschen und Situationen sind, die außergewöhnliche Ereignisse in sich bergen. Er verfasste Verse in denen man sich wiederfindet, Verse, die dich ansprechen und dich einladen den herrlichen Frühlingswind auf deiner Haut zu spüren, den blühenden Blumen zu lauschen, den Geruch des Meeres einzuatmen, und dir sogar zu wünschen, ein Fisch in einer Flasche Schnaps zu sein.
Veli findet in seinen naiv-humoristischen, lebensbejahenden Versen Worte für die Liebe zum Leben, dem Meer, der Sonne. Und dafür lieben wir Orhan Veli und seine Gedichte.
Text: Merve Bayar