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Provinzstadt Turkey
Allgemein

Dersim Dream

Oder kommunistische Zustände in Anatolien

Ovacık fasülyesi. Ich hatte schon viel von den Bohnen aus der ostanatolischen Kleinstadt Ovacık gehört. Umso erstaunter war ich, als ich die türkeiweit berühmten Hülsenfrüchte fast 1400 km von Ovacık entfernt in Altınoluk an der Ägäis in den Händen hielt.

Diese zu 100% biologisch erzeugten Bohnen sind das Ergebnis eines landwirtschaftlichen Systems, das in der bisherigen Geschichte der Türkei einzigartig ist. Zu verdanken ist das sogenannte „Ovacık-Modell“ dem ehemaligen Bürgermeister der gleichnamigen Kleinstadt, der vieler Orts nur noch unter dem Namen Komünist Başkan bekannt ist.

Komünist Başkan stellt die Türkei auf den Kopf

Woher kommt also der Hype um diese augenscheinlich normalen Bohnen? Mehmet Fatih Maçoğlu persönlich ist die Antwort darauf. Zum Zeitpunkt seines Amtsantritts zum Bürgermeister der 3000-Seelen-Stadt Ovacık (Tunceli) im Jahr 2014 haben ihn sicherlich die meisten für verrückt erklärt. Denn als er sich über die Liste der Türkiye Komünist Partisi (TKP) für das Amt bewarb, war die Stadt um ganze 1,5 Millionen Lira verschuldet. Unerwartet gewann er die Wahl – und nahm trotz der zum Scheitern verurteilten Kassenbilanz den Posten an.

 Fatih_Mehmet_Maçoğlu

Fatih Mehmet Maçoğlu bei einer Wahlkampfrede

Medial erhält er wegen seinen ausgefallenen Ideen und einem unvergleichlichen Tatendrang den Beinamen Komünist Başkan und geht damit in das kollektive Gedächtnis der ganzen türkischen Gesellschaft ein. Er schafft es, jegliche Erwartungen der Gemeinde zu übertreffen, denn bis zur Beendigung seiner Amtszeit 2019 tilgt er nicht nur sämtliche städtische Schulden, sondern scheidet auch noch mit einem deutlichen Plus in der Kasse aus dem Amt. Das längst unmöglich Ggeglaubte schafft Komünist Başkan im Handumdrehen binnen einer Amtszeit.

„Das längst unmöglich Geglaubte schafft Komünist Başkan im Handumdrehen binnen einer Amtszeit.“

Bürgermeister mit Halay und Türkü

Für die einen ist er ein Provokateur und Demagoge, der die bisherige gesellschaftliche Ordnung in Frage stellt. Für die anderen ist er ein Lichtblick vor allem in Zeiten von Repression und staatlicher Zensur. Komünist Başkan fällt durch sein unkonventionelles Auftreten in T-Shirt und Sportschuhen, seinenm „devrimci bıyığı“ (dem Schnauzbart der Linken) und seiner offenen Art auf. Mal sitzt er mit Studierenden auf den Feldern Ovacıks und singt Türkü mit ihnen, mal sieht man ihn mit der städtischen Gemeinde den Folkloretanz Halay tanzen.

Provinz Tunceli

Ein für die Provinz Tunceli typischer Berghang.

Mit seiner Herzlichkeit und kommunikativen Stärke schafft er sehr schnelles Vertrauen, auch bei argwöhnischen Menschen. Er wird als Ältester von 11 Geschwistern in einem Dorf im Landkreis von Ovacık an den Berghängen des Munzurgebirges geboren und wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Bezeichnend für seine Sozialisierung ist die zaza-kurdische Kultur der Tunceli Provinz.
Geprägt durch das Bewusstsein einer Minderheit, die Repressionen durch staatliche Strukturen erleidet, politisiert sich Mehmet Fatih Maçoğlu schon in jungen Jahren.

Vor allem die Taten des beim Dersim-Massaker hingerichteten Widerstandskämpfers Seyit Riza und die Ideen des Revolutionärs Ibrahim Kaypakkaya beeinflussen ihn. Er engagiert sich früh in linken Organisationen und Gewerkschaften. Nach der Ausbildung zum Beamten im Gesundheitssektor und 27 Jahren Berufstätigkeit in diesem Bereich, wird er mit 46 Jahren der erste und einzige kommunistische Bürgermeister in der Türkei und leitet damit eine Welle weitreichender Reformen in der Stadtverwaltung ein.

Die Idee vom Guten Leben für Alle

Der Nahverkehr wird kostenlos, der Wasserpreis wird erheblich gesenkt, hilfsbedürftige Studierende erhalten Stipendien, das Gemeindehaus wird zu einer großen Bibliothek umgebaut, alle wichtigen städtischen Fragen werden gemeinsam mit den Bürger*innen entschieden und vieles mehr. Das Hauptanliegen ist und bleibt die soziale Entwicklung und Förderung aller Menschen der Region. Deshalb werden Kooperativen gegründet, um die Landwirtschaft kollektiv zu organisieren und mit Hilfe der Stadt werden brachliegende Felder nutzbar gemacht.

Diese Felder werden gemeinschaftlich bearbeitet und die Erträge ebenso gemeinschaftlich verteilt. Die ökologisch erzeugten Produkte werden landesweit, auch über das Internet, verkauft. Ob Bohnen, Kichererbsen, getrocknete Früchte oder Honig aus Ovacık, die Produkte scheinen den Zauber ihrer Herkunft im Geschmack zu tragen, denn die landesweite Nachfrage übersteigt längst das Angebot. Nutznießer von diesem System sind mehr als 400 Familien aus der Region. Was nach kommunistischem Old-school-Klischee klingt, funktioniert zum Erstaunen des Landes tatsächlich.

„Was nach kommunistischem Old-school-Klischee klingt, funktioniert zum Erstaunen des Landes tatsächlich.“

Expansion des Modells: Der Dersim Dream

Das Modell Ovacık wird damit für Viele zum Erfolgsmodell für den ländlichen Raum. In den Kommunalwahlen 2019 stellt sich der Komünist Başkan wieder zum Bürgermeisterkandidaten auf, doch diesmal für die Provinzhauptstadt Tunceli, und gewinnt dort die Wahlen. Seitdem werden auch dort sozialistisch-demokratische Reformen verwirklicht. Wie die Bilanz 2024 nach seiner Amtszeit in der Provinz Tunceli mit seinen 72 000 Einwohner*innen aussehen wird, wird sich noch zeigen. Doch eins ist bereits sicher: dieser Mann geht als der erste kommunistische Bürgermeister in die Geschichte der Türkei ein.

Dersim Dream

Ein Erzeugnis des Dersim Dreams: Bohnen!

Für die meisten Alevit*innen, Kurd*innen, Andersdenkende und Linke wird damit etwas Realität, was lange Zeit nur ein kühner Traum war. Ein Versuch einer Politik, die die Minderheitenrechte und die Partizipation in den Vordergrund ihrer Agenda setzt. Tunceli bzw. die ursprünglich kurdische Bezeichnung „Dersim“ wird damit so etwas wie das linke Pendant zum American Dream. Das Narrativ vom Dersim Dream schafft einen Sehnsuchtsort, in der die soziale Frage neu gestellt wird. Ein Ort, an dem alle ein Mitspracherecht haben, Geschlechtergerechtigkeit herrscht und keine Ausbeutung von Mensch und Natur stattfindet.

Entsprechend äußern sich die städtischen Maßnahmen durch ein weitreichendes Sozialsystem, Bildungsoffensiven, kostenloser Infrastruktur und Schutz von Biodiversität – klingt nach der sozial-ökologischen Transformation, die seit Jahren auch in Deutschland, nicht zuletzt durch Fridays for Future oder Ende Gelände, gefordert wird. Dass das Ovacık-Modell in vielen Regionen Tuncelis rege Unterstützung erhält, ist natürlich nicht zuletzt der dortigen Sozialstruktur und Geschichte geschuldet. Vor allem Alevit*innen und Kurd*innen können nun nach Jahrzehnten der Unterdrückung und Repression ihr eigenes Schicksal selbst mitentscheiden.

Das Ovacık-Modell könnte auch zukünftig in Deutschland als Vorbild für die strukturschwachen ländlichen Regionen dienen oder zumindest Anlass sein, die bisherige Politik in den entsprechenden Regionen neu zu überdenken. Denn oftmals sind es ähnliche Probleme, die die ländlichen Regionen vor immense Herausforderungen stellen. Das Wegziehen von jungen Menschen, schwache Infrastruktur oder ein geringes kulturelles Angebot machen das Klischee von einem unattraktiven ländlichen Raum aus.

Doch vielleicht braucht es genau aus diesem Grund mutige Menschen, die bereit sind, unkonventionell und kreativ zu denken und das Risiko, das in jeder Veränderung steckt, einzugehen. Die Betonung und Sichtbarmachung von Multiperspektivität der hiesigen Minderheiten und die Stärkung von Partizipation wären der erste Schritt in die richtige Richtung. Und wer weiß, vielleicht gäbe es dann auch irgendwann die deutsche kommunistische fasülyie (Bohne).

Text: Mahir Türkmen 

Bilder: Wikimedia Commons

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