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Gesellschaft & Geschichten

Şahmaran

Die Geschichte der Göttin der Weisheit

Viele bekannte Mythen drehen sich um die griechischen Götter der Antike. Doch auch in Anatolien, dem Iran und Irak sowie in den kurdischen Gebieten gibt es viele mythologische Figuren. Zu den bekanntesten und ältesten mythischen Geschöpfen zählt unter anderem die Figur Şahmaran (auch Schahmaran oder Shahmaran). Wer sie ist und welche Bedeutung sie noch bis heute hat, erzählen Islamwissenschaftler Yılmaz Kahraman und Künstlerin Bêrîvan Îbîn. Insbesondere in der kurdischen Mythologie spielt die Figur Şahmaran eine zentrale Rolle und ist der mündlich überlieferten kurdischen Literatur zuzuordnen. Ihre Geschichte wurde an zukünftige Generationen weitergegeben. Daher gibt es verschiedene Auslegungen. Doch die Kernaussage sei beständig. Auch Yılmaz Kahraman, der sich in seiner Dissertation mit orientalischer Kunstgeschichte und Alevitentum beschäftigt, hat die Geschichte der Şahmaran erzählt bekommen. „Ich verbinde mit ihr meine Kindheit. Meine Mutter hat uns die Geschichte in unserer Muttersprache Kurmandschi (kurdisch) erzählt. Wir glaubten, dass sie wirklich existiert“, erzählt Kahraman.

Es handelt insbesondere von Vertrauen, Weisheit und darum, Geheimnisse für sich zu behalten. Auch die Darstellung der Şahmaran als weibliches Wesen spielt eine wichtige Rolle.

Doch wer ist sie und welche Bedeutung wird ihr heute noch zugetragen?

Der Name setzt sich zusammen aus dem persischen šāh (König) und mār (Schlange) und bedeutet Königin der Schlangen. Die Kreatur, halb Frau und halb Schlange, gilt als Göttin der Weisheit und als die Hüterin der Geheimnisse. Den Überlieferungen nach ist davon auszugehen, dass Şahmaran in der Provinz Tarsus in der heutigen südzentralen Türkei und in der südöstlichen Provinz Mardin lebte. Doch Schlangensymbole sind in vielen Mythologien sehr stark verbreitet und daher auch in anderen Regionen zu entdecken.

Vor Tausenden von Jahren

Foto: kurdischer Kalender

Der Legende nach ist der erste Mensch, der ihr begegnet war, ein junger Mann namens Tasmsp – in anderen Versionen der Geschichte auch als Cemşid, Cihan, Jamsab oder Jamisav bekannt. Cemşid und seine Freunde entdecken im Wald eine Höhle, die mit Honig gefüllt ist. Als sie versuchen, den dort verborgenen Honig zu stehlen, bleibt Cemşid stecken. Seine Freunde lassen ihn in der Höhle allein. Er beschließt, die Höhle zu erkunden und gelangt in einen wunderschönen Garten, wo er Şahmaran zum ersten Mal begegnet. Cemşid freundet sich mit ihr an und verbringt einige Zeit in ihrem unterirdischen Reich. Nach einigen anderen Erzählungen verliebt sich Şahmaran in Cemşid. Şahmaran lehrt ihn über Arzneimittel, Heilkräuter und erzählt ihm viele weitere Geschichten. Als ihr jedoch die Ideen ausgehen, verlässt sie der Mann und kehrt in seine Heimat zurück. Auch wird erzählt, dass Cemşid, das Leben über der Erde vermisst habe und sie deshalb verlassen hat. Nur unter der Bedingung, niemandem von Şahmaran und der Schlangenhöhle zu erzählen, darf Cemşid die Höhle verlassen. Da Şahmarans Körper als eine Quelle der Heilung gilt, hat sie Angst, dass die Dorfbewohner sie schamlos ausnutzen und töten würden. Um dieses Geheimnis zu bewahren, darf Cemşid außerdem kein öffentliches Bad mehr besuchen. Durch seinen langen Aufenthalt in der Höhle habe sich sein Hautbild verändert, sodass sie sich in eine mit Schuppen bedeckte Schlangenhaut verwandelt hat.Viele Jahre kann Cemşid das Geheimnis der Şahmaran bewahren, bis eines Tages der Sultan erkrankt. Der Wesir erfährt von einer Heilmethode, die besagt, dass nur ein zubereiteter Körperteil von Şahmaran genügt, um den Sultan zu heilen. Deshalb ziehen Soldaten durch das ganze Land, die alle Einwohner dazu zwingen, öffentlich zu baden. So wird Cemşids Geheimnis aufgedeckt. Der Sultan versichert Cemşid eine Belohnung, wenn er den Ort der Schlangenhöhle verrät. Wegen seines Widerstands lässt der Sultan ihn im Kerker verhungern und verdursten. Erst als ihm die Todesstrafe droht, führt er sie zur Höhle. Şahmaran wird gefangen genommen und in den Palast des Sultans gebracht. Dort trifft sie nach vielen Jahren ihren geliebten Cemşid wieder, der sich schuldig fühlt und sich schämt, weil er Şahmarans Geheimnis verraten hat. Şahmaran tröstet ihren Geliebten und hat einen geheimen Plan, um ihre Weisheit und Geheimnisse an ihren Geliebten weiterzugeben. Sie verkündet, dass derjenige, der von ihrem Schwanz isst, all ihre Geheimnisse und Weisheit erlangen wird, derjenige, der von ihrem Körper isst, geheilt wird und derjenige, der von ihrem Kopf isst, auf der Stelle stirbt. Der Wesir zerteilt Şahmaran in jeweils drei Stücke und befiehlt, die Teile zu kochen. Als das Fleisch fertiggekocht ist, isst der gierige Wesir vom Schwanz. Cemşid, der sich schuldig und beschämt fühlt, isst ein Stück von ihrem Kopf, damit er auch sterben kann. Und der Sultan isst vom Körper mit der Hoffnung, geheilt zu werden. Şahmarans Plan geht auf: Der gierige Wesir stirbt auf der Stelle, der Sultan wird geheilt und Cemşid erlangt Şahmarans Geheimnisse und Weisheit. So wird Cemşid zum neuen Wesir ernannt. In anderen Erzählungen wird er zu einem Lokman Hekim, dem mythischen Arzt und Apotheker, der die Sprache der Pflanzen und Tiere versteht. Nach den Erzählungen glaubt man, dass nach Şahmarans Tod ihre Seele auf ihre Tochter übergeht und so über das Reich der Schlangen weiter geherrscht wird.

Von Mesopotamien nach Deutschland

Foto: Gemälde von Bêrîvan Îbîn

Noch heute schmücken Bilder der Şahmaran viele Wände kurdischer Häuser im südöstlichen Teil der Türkei. Aber auch in Deutschland nimmt Şahmaran immer mehr Raum ein. So hat Yılmaz Kahraman beispielsweise Stickereien mit dem Abdruck der Şahmaran mit nach Deutschland gebracht, – einst handgemacht von seiner Mutter, die diese Stickerei für einen Schulwettbewerb angefertigt hatte. „Die Motive und Farbtöne hoben sich von den ihrer Mitstreiter*innen in der Schule ab. Ihres war sehr naturgetreu gehalten, dass fiel auf, sodass sie als Beste ausgezeichnet wurde“, sagt Yılmaz Kahraman. Denn im Südosten der Türkei seien Malereien und Handarbeit in Form von Textilien eher in kräftigen und bunten Farben verbreitet. „Grün, blau und rot sind die geläufigen Farben, die man bei Şahmaran-Motiven sieht, sagt Künstlerin Bêrîvan Îbîn. Ihr ist es wichtig, dass die „mündliche Kultur“, die verloren zu gehen droht, weiterhin am Leben erhalten wird. Daher hat sie sich zur Aufgabe gemacht, die mythologische Geschichte der Şahmaran in Form von Postkarten und Wandbildern aufrechtzuerhalten. „Es ist schön, zu sehen, dass nicht nur Freunde und Bekannte sich für meine Bilder interessieren, sondern auch wildfremde Menschen“, sagt sie. In ihrer Kunst bleibt sie den traditionellen Farben treu und arbeitet mit floristischen Motiven – Şahmaran lebte der Legende nach in einem prachtvollen Garten, der dem Paradies gleicht.

Mehr als nur eine mythologische Figur

Foto: Erdal Erez; Tattoo-Artist: Lydi von Fearg

Şahmaran ist allerdings mehr als nur eine mythologische Kreatur. So war sie zuletzt unter anderem Auslöser der Proteste in Istanbul. Studierende zeigten bei einer Kunstausstellung ein Werk, auf dem die Kaaba, ein Teil der großen Moschee in Mekka, zu sehen war. In der Mitte wurde statt der Kaaba das mythische Wesen der Schlangenfrau dargestellt. In den Ecken des Gemäldes waren LGBTQI+-Flaggen abgebildet. „Mit Şahmaran verbinde ich nicht nur meine Identität und Kultur, sondern auch die Stärke und das Wissen beziehungsweise die Weisheit der Frau. Es drückt für mich sehr viel Empowerment aus“, sagt Bêrîvan Îbîn. Die Figur habe eine sehr feministische Komponente. Mit der Ermordung der Şahmaran habe man sie ihres Wissens und ihrer Weisheit berauben wollen. „Diese Gegebenheiten können wir auch aktuell beobachten, wie zum Beispiel Frauen im Patriarchat zu eigen gemacht werden – physisch als auch psychisch. Die Strukturen sind weitestgehend immer noch männerdominiert, obwohl Frauen ebenso gute Leistungen erbringen“, sagt Bêrîvan Îbîn. Sie bedauert, dass der Bezug zur kurdisch-anatolischen Kultur insbesondere bei Menschen, die in einer Diaspora aufwachsen, verloren geht und möchte daher mit ihrer Kunst einen Austausch ermöglichen. Um dem entgegenzuwirken, wurde im vergangenen Jahr in Mardin beispielsweise die Ausstellung „Şahmaran Mardin“ veranstaltet, um insbesondere das kulturelle und künstlerische Leben der Türkei zu bereichern und den Mythos von Şahmaran wiederzubeleben. Bis zu zwei Meter hohe Statuen wurden von Künstler*innen geschaffen und ausgestellt. So soll die Ausstellung auch die Geschlechterdiskriminierung herausfordern und die wahre Identität und den Wert von Frauen offenbaren, die seit matriarchalischen Zeiten durch den Şahmaran-Mythos existieren.

Text: Özge Kabukcu

Lektorat: Deniz Lara Zimmermann

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