„Fala inanma falsız kalma!“, was im Deutschen so viel wie „Glaube nicht der Wahrsagung, aber verzichte auch nicht ganz drauf!“ bedeutet, ist ein weit verbreitetes Sprichwort, in dem eine zwiespältige Haltung gegenüber (Aber-)Glaube und Tradition zum Ausdruck kommt. Um zu Verstehen, woher dieser Widerspruch herrührt, ist es sinnvoll sich mit dem Stellenwert von Aberglaube in der türkischen Gesellschaft und Kultur am Beispiel des Kaffeesatzlesens auseinanderzusetzen.
Das Kaffeesatzlesen ist ein fester Bestandteil gesellschaftlichen Lebens unter anderem in der Türkei. Doch auch in Deutschland genießt der Blick in die Mokkatasse große Beliebtheit. Um mehr über die eigene Zukunft zu erfahren, wird der Kaffeesatz sehr genau in Augenschein genommen, der durch das Abdecken mit dem Unterteller und das Umdrehen der Tasse an den Innenwänden verlaufen ist. Dabei zeichnen sich einzigartige Mokkaflecken ab, die beispielsweise menschen- oder tierähnliche Formen annehmen können. Diese Muster und Gebilde lassen sich als Botschaften über Ereignisse deuten, die sich in der nahen Zukunft abspielen werden. So spitze ich stets beide Ohren und höre gespannt der Kaffeesatzleser*in zu, um ja kein Detail der Interpretation der Mokkaflecken zu verpassen.
Der Brauch und die Tradition des Kaffeesatzlesens sind mir aus der Türkei vertraut, wo die weisen und erfahrenen Älteren, also auserwählte Großmütter und Tanten aus dem näheren Umfeld beisammensitzen. Während des gemeinsamen Mokkatrinkens werden Sorgen, Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft miteinander ausgetauscht. Zitat: „Mithilfe des Kaffeesatzlesens lässt sich bei den Älteren um Rat fragen, denen eine besondere Gabe zugeschrieben wird: Die erkorenen Damen besitzen eine Art mystische Fähigkeit, Menschen zu lesen und können mithilfe ihrer ausgeprägten Intuition Aussagen über die nahe Zukunft der ratsuchenden Person treffen.“ Bei jeder geplanten Türkeireise freue ich mich aufs Neue, meine Familie und Verwandtschaft wiederzusehen, gemeinsam Mokka zu trinken und mir anschließend die Zukunft aus der Kaffeetasse deuten zu lassen. Doch was mache ich, wenn ich mal in Deutschland Rat suche und wissen möchte, welche Chancen und Herausforderungen die Zukunft für mich bereit hält?
Kaffeesatzlesen goes international and digital
Obwohl das Kaffeesatzlesen von vielen Mokkatrinker*innen als Aberglaube verstanden wird, gibt es eine große Nachfrage an erfahrenen Falcı (tr. Wahrsager*in). In der Türkei boomt das Geschäftsmodell des Kaffeesatzlesens. Besonders in den türkischen Metropolen gibt es viele Cafés, in denen das Kaffeesatzlesen eine wichtige finanzielle Einnahmequelle und Dienstleistung darstellt. Dieser Trend hat auch Deutschland erreicht: In Städten wie Berlin oder Köln haben verschiedene Cafés geöffnet, in denen sich Mokkaliebhaber*innen aus der ausgetrunkenen Tasse die Zukunft vorhersagen lassen können. Für Smartphone-User*innen wurden sogar Kaffeesatzlese-Apps entwickelt. Dazu ist es notwendig, zunächst einige Fotos vom Kaffeesatz, der am Grund der Mokkatasse sichtbar wird, hochzuladen. Schon nach kurzer Zeit erhielt ich bei meinem Selbstversuch eine Textnachricht, in der meine Zukunft von einer digitalen Falcı gedeutet worden ist. Dass digitale Angebote eine ernsthafte Alternative zu der traditionellen Kaffeesatzleserei zu sein scheinen, legt zumindest die Zahl der mehr als zehn Millionen App-User*innen weltweit nahe.
Volkstümlichkeit vs. Mystizismus
Bei einer vertieften Auseinandersetzung mit der Thematik „Aberglaube in der türkischen Gesellschaft & Kultur“, in der die Kunst des Deutens am Beispiel des Kaffeesatzlesens in den Blickpunkt rückt, stößt man unweigerlich auf umstrittene Anschauungen, die besonders folgende Frage aufwirft: Wie lässt sich nun die Popularität des Kaffeesatzlesens auf der einen und die zwiespältige Haltung gegenüber diesem (Aber-)Glauben auf der anderen Seite erklären?
„Was den gesellschaftlichen sowie kommerziellen Aspekt des Kaffeesatzlesens betrifft vermischen sich wohl Neugier, Tradition und die kulturelle Bedeutung des Aberglaubens. Zum einen ist das Kaffeesatzlesen ein alter Brauch, der beispielsweise von den Osmanen übernommen wurde und bis heute die türkische Kaffeetrinkkultur prägt. Zum anderen legt das Ritual die zwiespältige Haltung offen, die religiös begründet wird.“
In der islamischen Welt ist die Auffassung weit verbreitetet, dass niemand außer Gott das Verborgene – und damit auch die Zukunft – kennt. Glaubt man aber an das Kaffeesatzlesen und den Worten der Falcı, dann gesellt man Gott jemanden bei, weil der Wahrsager*in göttliche Kräfte zugeschrieben werden. Obwohl dies nach religiösem Verständnis eine Sünde darstellt, wird der Brauch des Kaffeesatzlesens weiterhin im Alltag praktiziert. Außerdem hat neben der Kommerzialisierung des Kaffeesatzlesens (Apps und entgeltpflichtiger Service in Cafés) auch ein kultureller Umbruch stattgefunden. Mit der Modernisierung, Urbanisierung und Digitalisierung der Gesellschaft wurden traditionelle Familienstrukturen aufgebrochen. Es ist immer üblicher geworden, dass das Umfeld der Familie für die universitäre Ausbildung oder einen neuen Job in der Ferne zurückgelassen wird. Vielleicht suchen deshalb viele Menschen nach kulturell vertrauten Mustern – gerade in der Ferne. Möglicherweise wurde durch die Öffnung von Cafés, in denen die Dienstleistung des Kaffeesatzlesens angeboten wird, auch die Entwicklung digitaler Alternativen vorangetrieben, weil viele Mokkaliebhaber*innen nicht mehr auf den nächsten Familien- oder Türkeiurlaub warten wollten. Vielleicht auch, um den sozialen Aspekt des Zusammenseins und den gegenseitigen Austausch von Erfahrungen zu pflegen, weil man sich in den Großstädten allein und abgekoppelt von der Familie fühlt.
„Das Kaffeesatzlesen hat neben Entertainment eine sinnstiftende Funktion, eine hochsoziale Facette, in der Aberglaube und Tradition verschmelzen.“
Auch wenn die Kaffeesatzlese-App mir einen Hauch von traditioneller Kaffeesatzleserei vermittelt und mich entertaint, möchte ich nicht auf die rituelle real life-Variante verzichten. Wie steht ihr zur Kaffeesatzleserei? Purer Aberglaube mit Unterhaltungsfaktor oder ein eher traditioneller und kultureller Brauch, welches von Generation und Generation weiterpraktiziert und geschützt werden sollte?
Credits
Text:Dilek Kalın
Fotos: Murat Surat